Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
klang seine Stimme anklagend und auch in seinem starren, auf Larenia gerichteten Blick widerspiegelte sich die unausgesprochene Kritik.
„Ich würde mein Leben geben, um all die Kämpfe, das Leid und das Sterben rückgängig machen zu können. Doch ich kann es nicht“, diesmal hielt sie Juliens Blick stand, „aber noch gibt es Hoffnung. Ich habe euch versprochen, dass Anoria nicht untergehen wird. Und meine Versprechen halte ich.“
Julien hätte vieles darauf erwidern können, doch er schwieg, gegen seinen Willen besänftigt durch die Aufrichtigkeit in ihrem Blick und den sanften, warmen Klang ihrer Stimme.
Julien blieb also keine Wahl, als seine Armee im Grenzgebiet zusammenzuziehen und dort dem Angriff standzuhalten, wollte er Opfer und Verluste begrenzen. Er war bereits zu weit in diesem Krieg gegangen, um jetzt noch zu kapitulieren und auf die Gnade der Brochonier zu vertrauen. Außerdem hegte er keine Illusionen mehr über die Absichten seiner Feinde. Wenn er den Frieden in Anoria wieder herstellen wollte, musste er weiterkämpfen und nach einem Weg suchen, die Brochonier zu besiegen. Aber der König der Anorianer hatte keine Hoffnung mehr. Er kämpfte, weil er keine Alternative sah und weil er noch immer dem Urteil der Gilde vertraute. Aber worauf sich Larenias Hoffnung gründete, konnte Julien nicht erkennen.
Für Anoria gab es jetzt nur noch zwei Möglichkeiten, Hilfe zu erhalten. Und eine war so unwahrscheinlich wie die andere. Die Kandari schienen kein Interesse an Anoria zu haben. Bis jetzt gab es keine Nachrichten, keinerlei Informationen, ob sie bereit waren, den Menschen zu helfen. Julien hatte nie auf ihre Hilfe vertraut, egal, was die Gilde behaupten mochte. Die Macht der Kandari war für ihn eine Legende, etwas, das nicht zum Leben der Menschen gehörte. Obwohl der König vieles ohne Beweise hingenommen hatte, hatte er doch von Anfang an damit gerechnet, diesen Krieg allein austragen zu müssen. Allerdings hatte er die Macht der Gilde … vielleicht nicht überschätzt, aber er hatte eine andere Vorstellung von ihren Kräften gehabt.
Die zweiten potenziellen Verbündeten Anorias waren die Widerstandskämpfer in Laprak. Aber da sie nur im Verborgenen handeln konnten, waren ihre Möglichkeiten von Anfang an begrenzt.
Immerhin stellten die Waldläufer eine wirkungsvolle Verstärkung der Streitmacht von Anoria dar. Sie waren seit Jahrhunderten Kämpfer, welche die Grenzen des Reiches beschützten, auch wenn sie sich niemals den Hochkönigen unterworfen hatten. Sie kämpften für Ideale und um ihr Überleben, wann immer es erforderlich war. Doch sie waren wenige geworden. Im Gebirge lebten vielleicht noch sechstausend Waldläufer, allerdings waren sie ein zerstreutes, einzelgängerisches Volk und eine genauere Schätzung war unmöglich. Aber auch sie hielten ihre Versprechen und sie verhielten sich stets loyal gegenüber ihren Verbündeten.
Am fünfundzwanzigsten Tag des Monats erreichten zwei Reiter Magiara. Ungehindert und scheinbar auch unbemerkt ritten sie durch das kleine Dorf weiter Richtung Norden, bis der Zauberturm an den Klippen am Ende der Hochebene auftauchte. Die beiden Fremden wechselten einen kurzen Blick und näherten sich dann dem eindrucksvollen pyramidenförmigen Gebäude. An den Stufen der Freitreppe hielten sie an und saßen ab. Doch dann blieben sie zögernd stehen, als könnten sie sich nicht entschließen, einzutreten. Bevor sie ihre Unentschlossenheit überwinden konnten, erschallte ein überraschter Ruf hinter ihnen. Erstaunt sahen sich die beiden Neuankömmlinge um und entdeckten Philipus, der hinter einer Ecke des Turms hervorgetreten war. Einen Augenblick lang starrte er die beiden finster und feindselig an. Aber dann erkannte er eine der beiden Gestalten und lächelte, etwas, das bei dem sonst so ernsten Elfen sehr selten vorkam.
„Merla!“, mit ein paar schnellen Schritten gelangte er neben sie, „ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen.“
Merla erwiderte sein Lächeln. Einst waren sie gute Freunde gewesen und aller Groll, den sie gegen ihn gehegt hatte, weil er bei Larenia geblieben war, war längst verflogen. Eine Weile sahen sie sich forschend an, als wollten sie erkennen, welche Spuren die vielen Jahre, die inzwischen vergangen waren, hinterlassen hatten.
„Du siehst unverändert aus“, sagte Merla schließlich, „noch immer der alte, stets sorgenvolle Denker.“
„Und du sagst noch immer zu allem und jedem deine Meinung, ob man
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