Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
zahlreichen Obstbäumen hingen die ersten reifen Früchte. Hier, im Süden Arianas, mischte sich die raue Schönheit des Nordens mit der lieblichen Anmut südlicherer Gefilde. Jenseits der schroffen, felsigen Steilküste glitzerte das Meer und hinter den im Sonnenlicht golden glänzenden Feldern und gepflegten Wegen und Anwesen konnte man einen windgepeitschten Nadelwald sehen.
Doch jetzt arbeitete kein einziger Mensch auf den Feldern oder in den Gärten. Das ganze Land war öde und leer, nachdem die Arianer geflohen waren. Jedoch war es nicht nur die Abwesenheit der Menschen, die ganz Ariana verlassen, nahezu ausgestorben wirken ließ. Kein einziges Tier, nicht ein Vogel war zu sehen und nicht einmal das Summen der Insekten drang an ihr Ohr. Das ganze Land war in Schweigen und Stille gehüllt.
Pierre, der ein Stück vorausgeritten war, hielt sein Pferd an und wartete auf die anderen. Als sie ihn eingeholt hatten, wandte er sich an Elaine: „Wohin willst du zuerst?“
Sie sah sich langsam und suchend um. Die unheimliche Ruhe hatte ihre Wirkung auf Logis’ Tochter nicht verfehlt.
„Wir werden zuerst zu unserem Haus reiten“, sagte sie endlich, wenn auch etwas unsicher, „sollte mein Vater nicht da sein, können wir dort immerhin übernachten und morgen nach Komar gehen.“
Pierre stimmte ihr zu. Obwohl er es für unwahrscheinlich hielt, konnte all das hier eine Falle der Brochonier sein. Darum war es ihm nur recht, morgen bei Tageslicht die Stadt zu durchsuchen. Die Tage waren inzwischen merklich kürzer geworden und die Sonne hing schon sehr tief am Himmel.
Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Aber als sie in die Sichtweite von Logis’ Haus kamen und noch immer kein Mensch zu sehen war, drehte Pierre sich zu Julius und Elaine um und sah sie ernst an.
„Eins sollte euch beiden klar sein: Wenn wir Logis hier in Komar nicht finden, wirst du“, dabei sah er Elaine an, „mit uns zurück nach Arida kommen. Weder Julius noch ich haben genug Zeit, weiter in den Norden zu reiten. Wenn wir keine Spuren eines Kampfes finden, können wir sicher sein, dass alle Arianer geflohen sind.“
Hastig stimmte Elaine ihm zu. Sie hatte Julius zu dieser Reise gedrängt, weil sie die Ungewissheit nicht länger ertragen konnte. Sobald sie Aufschluss über Logis’ Schicksal erhielt, war sie bereit, nach Arida zurückzukehren.
So erreichten sie schließlich Logis’ Landhaus. Nur zu gut erinnerte sich Julius an die Menschenmenge, die er bei seinem letzten Besuch hier angetroffen hatte. Doch von dem Durcheinander und der unglaublichen Masse von Leuten war heute nichts zu sehen. Die Tür des Hauses war ordentlich verschlossen und es waren keine Spuren von Gewalt sichtbar, doch ebenso wenig ließen sich Menschen blicken. Zögernd traten sie ein. Im Inneren war alles still und aufgeräumt, wenn auch eine dicke Staubschicht die Möbel bedeckte.
„Wie lange sie wohl schon weg sind?“
Mit einer Hand strich Julius über einen Schrank und betrachtete dann seine Handfläche.
„Zwei Wochen mindestens“, ertönte es aus einem anderen Zimmer, „vielleicht länger.“ Pierre trat wieder auf den Gang und unterzog seine Umgebung einer letzten abschließenden Musterung: „Sucht euch einen Platz zum Schlafen. Ich werde Wache halten.“
Die Zeit schleppte sich dahin. Julius und Elaine schliefen unruhig, denn sogar das gelegentliche Knarren der Fensterläden und das Rauschen des Windes wurden zu lauten Geräuschen. Wann immer sie aufwachten, sahen sie Pierre, der unbeweglich dasaß mit griffbereiter Waffe. Seine Augen leuchteten im Licht einer einzelnen Kerze, die sie im Haus gefunden hatten. Aber entgegen ihrer Befürchtungen verging die Nacht ereignislos.
Im ersten Morgengrauen standen sie wieder auf. Sie ließen die Pferde zurück und gingen zu Fuß nach Komar. Auch heute war alles unheimlich still. Ihre anfänglichen Gespräche verstummten bald und schließlich marschierten sie in verbissenem Schweigen nebeneinander her.
Am späten Vormittag erreichten sie den Pass von Komar. Ruhig und scheinbar friedlich lag die Stadt vor ihnen, überragt von der finsteren Burg der Ariana-Fürsten. Pierre, der schon die ganze Zeit lang verschwiegen und mürrisch war, blieb stehen und runzelte besorgt die Stirn.
„Da stimmt etwas nicht.“
Verständnislos sah Elaine zuerst Julius, dann Pierre an: „Wie meinst du das?“
„Selbst wenn Logis nicht mehr hier ist, hätte er Späher und Boten zurückgelassen. Es wäre Wahnsinn, die Stadt
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