Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
verfolgt.“
„Was?“, das blanke Entsetzen stand dem jungen Prinzen ins Gesicht geschrieben. „Wie viele?“
„Zwanzig, vielleicht mehr“, Larenia achtete nicht auf Julius’ Bestürzung oder Elaines Verzweiflung, „sie sind schneller als wir, aber wahrscheinlich geben sie die Verfolgung auf, wenn wir die Grenze erreichen.“
Sie versuchte nicht einmal, überzeugend zu klingen. Julius und Elaine wagten es nicht, zu widersprechen. Aber die Tochter eines Fürsten und der Sohn des Königs waren für die Brochonier zu wertvolle Gefangene, und sei es nur für einen Schauprozess, als dass sie einfach aufgeben konnten.
So schnell wie möglich ritten sie weiter. Aber selbst mit diesem Tempo und ohne Pause würden sie die Grenze zu Aquanien erst gegen Mitternacht erreichen. Ein paar Mal hielt Larenia an, um nach ihren Feinden Ausschau zu halten. Und jedes Mal trieb sie sie mit finsterem Gesichtsausdruck zu noch größerer Eile an.
Bis zum Anbruch der Abenddämmerung hasteten sie vorwärts und in dieser Zeit sprachen sie kein einziges Wort miteinander. Aber dann verlangsamte Larenia ihr Tempo und sah sich um. Inzwischen glaubten auch Elaine und Julius, das Donnern von Hufen hinter sich zu hören.
„Die Grenze ist nah“, sagte Larenia in jenem tonlosen, konzentrierten Tonfall, „ihr könnt sie bis Mitternacht erreichen. Dort solltet ihr vorerst sicher sein.“
„Und du?“, ihre entschlossene Miene erschreckte Julius.
„Ich werde sie aufhalten.“
Fassungslos starrte Julius sie an: „Aber vorhin hast du gesagt, du könntest eine solche Übermacht nicht besiegen.“
„Das stimmt. Doch du vergisst, wer ich bin. Mit zwanzig Brochoniern sollte ich fertigwerden. Wartet jenseits der Grenze bis zum Morgengrauen auf mich. Wenn ich dann nicht da bin, reitet weiter nach Magiara.“
Sie wartete ihre Antwort nicht ab. Stattdessen wendete sie ihr Pferd und verschwand in der aufziehenden Dunkelheit.
Lange Zeit sah Julius ihr nach. Noch vor einem Tag wäre ihm seine jetzige Situation unmöglich erschienen. Gestern hätte er jeden ausgelacht, der ihm diese Lage beschrieben hätte. Der gesamte Ausflug war zu einer einzigen Katastrophe geworden. Losgeritten waren sie, um Informationen über Logis’ Aufenthaltsort zu bekommen, und dabei waren sie blind in die Falle der Brochonier getappt. Julius bereute bitter sein unüberlegtes Handeln und seine Hilflosigkeit. Pierre und Larenia riskierten ihr Leben, um ihn und Elaine zu retten, und alles, was er tun konnte, war, im Weg stehen.
Elaine riss ihn schließlich aus seinen düsteren Gedanken: „Wird sie es schaffen?“
Julius zögerte, bevor er antwortete. Er kannte Larenias unglaubliche Fähigkeiten. Er hatte gesehen, wie sie Menschen mit einem einzigen Blick in Angst und Schrecken versetzen konnte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass selbst ihre Kräfte Grenzen hatten.
„Ich weiß es nicht“, er riss sich endlich vom Anblick der scheinbar unendlichen Weite Arianas los und sah Elaine an, „aber ich hoffe es. Los komm!“
Er trieb sein Pferd an und ritt weiter. Nach einem letzten Blick zurück folgte ihm Elaine.
Kurz vor Mitternacht überquerten sie die Grenze zwischen Ariana und Aquanien. Die Späher, die seit Beginn des Krieges stets hier wachten, hielten sie kurz auf, doch als sie Julius erkannten, traten sie zur Seite und gaben den Weg frei. Julius sprach kurz mit dem Anführer der Wache, um ihn über ihre Verfolger zu informieren. Dann setzten sie ihren Weg fort. Ein kurzes Stück hinter der Grenze hielten sie an. Weiterzureiten hätte keinen Sinn. Inzwischen stolperten ihre Pferde vor Müdigkeit und sie konnten ihre Augen kaum noch offen halten. Außerdem hatte Larenia ihnen deutlich genug gesagt, dass sie hinter der Grenze warten sollten.
Doch ihre Hoffnung, die Gildeherrin bald wiederzusehen, schwand, während die Nacht dahinzog. Langsam verblasste die Dunkelheit zu einem trüben Grau und noch immer war keine Spur von ihr zu sehen. Dann schimmerten die ersten Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke. Bis zu diesem Augenblick hatte Julius sich an seine Vorstellung von der Unbesiegbarkeit der Gilde geklammert. Doch selbst jetzt konnte er sich nicht überwinden, einfach weiterzureiten. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie Larenia, die kleine, zerbrechlich wirkende Larenia, gegen zwanzig Brochonier, die alle mindestens einen Kopf größer und doppelt so stark waren, kämpfen und gewinnen sollte.
„Julius?“, leise war Elaine hinter ihn getreten.
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