Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
unterscheidet. Manchmal denke ich, dass es da nichts mehr gibt. Sie sind mein Spiegelbild. Licht und Schatten“, sie verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln, „obwohl ich mir nicht sicher bin, auf welcher Seite ich stehe. Darum muss es einen Weg geben, diesen Krieg zu beenden. Aber ich sehe ihn nicht.“
Sie wandte den Blick ab und auch François schwieg betroffen. Die einzige Lösung, die ihm einfiel, war die Vernichtung ihrer Feinde, aber das war für Larenia nicht akzeptabel. Einst hatte sie mehr als nur ihr Leben riskiert, um die Unschuldigen zu schützen und unnötiges Leid zu verhindern. Sie würde nicht zögern, es wieder zu tun.
„Oh François, höre auf, dich mit Fragen zu quälen, auf die es keine Antwort gibt.“
„Das sagst ausgerechnet du?“
Sie lächelte, das verblasste Abbild ihres einstigen Lächelns: „Wer sollte es besser wissen?“
François antwortete nicht. Aber Larenia hatte es mit erstaunlicher Geschwindigkeit geschafft, seine Sicht der Dinge aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bisher hatte er in den Brochoniern nur den Feind gesehen. Eine anonyme Masse hasserfüllter Wesen, die es zu beseitigen galt, wollte man nicht selbst vernichtet werden. Sie als Individuen zu sehen, als eigenständige Persönlichkeiten, wie es sie in Anoria oder unter den Kandari geben mochte, war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Es änderte nichts an ihrer Situation oder an der Notwendigkeit zu kämpfen, aber es machte jede Entscheidung zu etwas Grausamem und Unmenschlichem.
Am nächsten Tag erreichten sie Navalia, die Stadt der Schiffbauer. Zwar war Navalia nicht älter als Arida, doch die Jahre, die der Hauptstadt ihre Würde und stille Größe verliehen hatten, hatten die Straßen der Seestadt lediglich dreckig und schäbig werden lassen. Seit ihrem letzten Besuch im Frühling waren die Müllhaufen höher geworden und die Häuser schienen verfallener, als Larenia sie in Erinnerung hatte. Sie hatte für diesen Ort nie besonders viel übriggehabt. Zu sehr unterschied er sich von der Welt der Kandari. Hier gab es keine hohen Mauern, welche die Geschichte vieler Jahrhunderte erzählten. Dennoch hatte Navalia mit seinen kleinen, dicht zusammengedrängten Häusern durchaus Bedeutung für Larenia. Die Menschen hier hatten in einem gewissen Grad erreicht, was sie sich für ihr eigenes Volk gewünscht hatte: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit, soweit das in dieser Welt möglich war. Egal, wie schwer sie arbeiten mussten oder wie leer ihr Leben auf einen Außenstehenden wirken mochte, ihre Einstellung und jede ihrer Handlungen war von Stolz geprägt gewesen, dem Stolz des Menschen, der wusste, was er wert war, und der sich nicht einer Regierung, die nur auf dem Recht der Geburt beruhte, beugen würde. Sie waren der lebende Beweis dafür gewesen, dass sie die Existenz ihres Volkes nicht nur für flüchtige Träume und Illusionen riskiert hatte.
Jetzt war jede Spur des Stolzes verflogen. Die Menschen huschten geduckt und ängstlich an ihnen vorbei und versuchten krampfhaft, den Blicken der beiden Kandari auszuweichen. Larenia kannte dieses Verhalten. Sie versuchten, mit ihrem Hintergrund zu verschmelzen, nicht mehr als ein Gesicht in der Menge zu sein und sich vollkommen anonym durch die Straßen zu bewegen. Denn jedes Selbstwertgefühl, jede noch so kleine Spur von Ehre, hätte sie in den Augen der Stadtherren verdächtig gemacht. Und es bestand kein Zweifel darüber, wer der wahre Herrscher Navalias war.
„So war es noch nicht, als ich das letzte Mal hier war“, François runzelte die Stirn und ließ den Blick über die niedergeschlagenen Menschen gleiten. Dann sah er in Larenias ruhiges, gefasstes Gesicht. Es war unmöglich zu erkennen, was sie dachte. Doch etwas, vielleicht das kurze Aufblitzen in ihren Augen, verriet ihr instinktives Zurückweichen, die Abscheu des Idealisten für etwas derart Niederträchtiges wie Verrat.
„Nein, denn damals hatten die Brochonier noch nicht die absolute Macht über Navalia. Jetzt aber kann es keine Zweifel mehr geben“, kühl und klar klang ihre Stimme im neutralen Tonfall der Diplomaten. Dann heftete sie den Blick ihrer so sonderbaren, ausdrucksvollen blauen Augen auf sein Gesicht, „dies wird mit ganz Anoria geschehen, wenn wir versagen. Wir brauchen diesen Waffenstillstand. Darum überlass das Reden mir.“
François antwortete nicht, aber er unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Er kannte Larenias Besessenheit und wusste, dass es in
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