Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Sträfling? Oder wollt ihr Baruks Nichte in Gefahr bringen?“
Rowena hielt erschrocken den Atem an. Die Soldaten sprachen kurz miteinander. Und dann geschah, womit sie schon nicht mehr gerechnet hatte. Das Tor öffnete sich.
Ohne zu zögern, schritt Pierre voran und Rowena folgte ihm, ohne zu begreifen, was um sie herum geschah.
Sie bestiegen das Boot und kurze Zeit später erreichten sie das Festland.
Für die Dauer eines Herzschlags vergaß Rowena den Ernst ihrer Situation, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren, dass noch ein Fußmarsch durch die halbe Stadt vor ihnen lag. Sogar Collyns ungewisses Schicksal erschien ihr unwirklich und weit weg. Sie fühlte sich unbesiegbar. Sie hatte das Unmögliche wahr gemacht, was sollte sie jetzt noch aufhalten?
Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie die Wirklichkeit einholte. Rowena hatte sich von Pierres selbstsicherem Auftreten täuschen lassen und sie konnte nicht ermessen, welch tiefe Spuren der Monat der Gefangenschaft hinterlassen hatte. Jetzt, sie liefen gerade durch eine halb leere Gasse, blieb der Elf stehen und lehnte sich an eine Hauswand. Rowena hastete noch ein Stück weiter, bevor sie ebenfalls anhielt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Pierre auf die Knie herabsank. Erschrocken eilte sie zurück und versuchte, ihn wieder hochzuziehen. Aber Pierre bewegte sich nicht. Er zuckte nur leicht zusammen, als Rowena an seinem linken Arm zog.
„Was tust du denn da? Wir sind noch nicht in Sicherheit! Komm, es ist nicht mehr weit“, der triumphale Glanz in ihrem Gesicht wich der langsam aufwallenden Panik, „bitte, steh auf!“
Aber Pierre reagierte nicht auf ihre Worte. Der Verzweiflung nahe sank sie neben ihm zu Boden. Sie zog ihre Hand, die sich nass und klebrig anfühlte, zurück. Entsetzt blickte sie auf ihre Handfläche herab. Sie war rot vom Blut des Kandari.
„Bitte“, flüsterte sie. Tränen schimmerten in ihren braunen Augen. „Gib jetzt nicht auf.“
„Ich kann nicht mehr“, ein tonloses Wispern war alles, was er hervorbrachte, „du hast mir meine Freiheit wiedergegeben. Jetzt lauf, damit du die deine nicht verlierst.“
Schluchzend kniete sie im Straßenstaub. Mit jedem Augenblick, der verging, schwand ihre Hoffnung zu entkommen. Dennoch konnte sie ihn nicht einfach zurücklassen.
Plötzlich sprang sie auf. Mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung zog sie auch Pierre auf die Füße.
„Ich lasse das nicht zu. Hörst du mich? Ich lasse nicht zu, dass du dein Leben wegwirfst.“
Die verzweifelte Entschlossenheit allein verlieh Rowena die Kraft für dieses letzte Stück des Weges. Sie trug den Elfen mehr, als dass er ging, und sie kamen nur sehr langsam voran. Wäre Pierre durch die lange Gefängnishaft nicht so abgemagert gewesen, hätten sie es nicht geschafft. Letztendlich hatten sie Glück, denn niemand beachtete sie. In Butrok gab es viele alte oder kranke Menschen und kein einziger erkannte in Pierre den entflohenen Gefangenen oder in Rowena die Nichte Baruks. Durch die von Norvan angezettelten Straßenkämpfe herrschte in den Hauptstraßen hektische Betriebsamkeit. Im Schutz des allgemeinen Chaos erreichten sie den Palast.
Rowena erinnerte sich später nicht mehr an dieses letzte Stück des Weges. Irgendwie gelangten sie die Treppe hinauf und in Rowenas Zimmer. Dann kniete sie am Boden, schwer atmend und völlig erschöpft. Nach einer Weile, sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, drehte sie sich zu Pierre um, der neben ihr am Boden lag. Er hatte das Bewusstsein verloren.
Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Zaghaft schüttelte sie ihn, aber Pierre reagierte nicht. Zum ersten Mal sah sie ihn wirklich an. Sein Gesicht war blass und eingefallen und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Eines seiner Augen war zugeschwollen und die Lippen aufgesprungen. Doch selbst in seinem erbärmlichen Zustand wirkten seine Gesichtszüge offen und sympathisch, vertrauenswürdig. Es war das Gesicht eines Mannes, der loyal zu seinen Freunden stand und sein Leben riskierte, um sie zu retten. In diesem Augenblick wurde Rowena bewusst, dass sie es nicht ertragen konnte, ihn sterben zu sehen. Nicht jetzt, da sie so viel gewagt hatte, um ihn zu befreien.
Rowena stand auf und rief nach ihrer Zofe. Sie flüsterte ihr ein paar Anweisungen zu, woraufhin das Mädchen wieder verschwand. Dann zerrte sie den Elfen unter großen Kraftanstrengungen vom Boden zum Bett. Dabei stellte sie erschrocken fest, wie viel
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