Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
solchen Momenten besser war zu schweigen.
Sie erreichten das Gildehaus, ein Gebäude, das im Stil des Palastes von Arida erbaut worden war und imposant wirken sollte. Jedoch war das Gegenteil der Fall. Die Säulen und Ornamente wirkten deplatziert und überladen zwischen den kleinen, allein auf praktische Bedürfnisse ausgerichteten Häusern, die das Stadtbild prägten. Es war eins der neueren Bauwerke, errichtet aus dem weißen Gestein, das im Norden Aquaniens verwendet wurde. Und anstelle der Größe und des Glanzes schien das Gebäude das Wesen des Gildemeisters widerzuspiegeln.
Larenia und François hatten kaum das Haus betreten als ihnen auch schon Salivius, der Gildemeister, entgegengewuselt kam. Salivius war ein älterer, mittelgroßer und dicker Mann, der früher sicherlich eine eindrucksvolle Figur gewesen war. Jetzt jedoch wirkte er einzig und allein kriecherisch, ein Eindruck, der durch sein farblos scheinendes Haar, das an seinem runden Kopf anlag, und durch seinen ehrerbietigen Gesichtsausdruck noch verstärkt wurde.
Erheitert beobachtete François, wie Larenias Gesichtsausdruck in erstaunlicher Geschwindigkeit von kühler Überlegenheit zu eisiger Kälte wechselte. Hinter dieser frostigen Fassade verbarg sie die Verachtung, die sie für diesen Menschen empfand. Zwar teilte François ihre Abneigung, doch er hatte im Laufe der Jahre gelernt, Feigheit und Verrat nicht nur als gegeben hinzunehmen, sondern sie sogar zu erwarten. Es gab nur drei Empfindungen, die Menschen und Kandari zum Handeln motivierten, hatte sein Lehrer einst gesagt, und das waren Angst, blinder Idealismus und Selbstsucht. Jetzt trat er vor und zog so Salivius’ Aufmerksamkeit auf sich. Dieser verbeugte sich tief, als er François erkannte. Larenia dagegen bedachte er nur mit einem verwunderten Blick, denn er war der Gildeherrin nie zuvor begegnet. Allerdings schien er ihr Anliegen bereits zu kennen. Bevor François auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte, bedeutete er ihnen, ihm zu folgen. Er führte sie in den großen Saal des Gildehauses, einer Säulenhalle, die durchaus Ähnlichkeit mit dem Thronsaal im Palast von Arida hatte. Salivius hielt ihnen die Tür auf, blieb aber selber zurück, als wäre er plötzlich von Furcht überwältigt. François und Larenia wechselten einen kurzen Blick, dann traten sie ein.
Am gegenüberliegenden Ende der Halle saß ein Mann in lässiger Haltung auf einem erhöhten, thronähnlichen Sitz. Seine schwarze Kleidung wies ihn als Brochonier aus, doch hätte es dessen nicht bedurft. Sie beide fühlten die finstere, gleichzeitig mächtige Ausstrahlung des brochonischen Druiden, eine Aura der Macht und Magie, die der Larenias sehr ähnelte.
Ohne seine Haltung im Geringsten zu verändern, ja, selbst ohne das Weinglas, das er in der rechten Hand hielt, abzustellen, sah der Brochonier den beiden Kandari entgegen. Flüchtig und mit sichtbarer Herablassung glitt sein Blick über François, der sich zwei Schritte hinter der Gildeherrin hielt, und blieb an Larenias Gesicht hängen. Einen Augenblick lang blickte er voller Arroganz auf die kleine, zierliche Elfe herab. Aber dann schien ihn irgendetwas in Larenias sonderbaren, dunkelblauen Augen zu fesseln. Jetzt endlich stellte er sein Glas ab und richtete sich auf, ohne den Blick von ihr lösen zu können. Beinahe gegen seinen Willen, so schien es François, stand der Druide auf und langsam mischte sich Erkennen in seinen Blick. Ohne zu zögern, ging er auf Larenia zu. Schließlich blieb er, kaum eine Armeslänge von ihr entfernt, in der Mitte des Raumes stehen. Noch immer hatte keiner von ihnen ein einziges Wort gesprochen. Und das war auch nicht notwendig, erkannte François. Sie schienen aneinandergefesselt zu sein. Licht und Schatten, die weder gleichzeitig noch ohne ihr Gegenstück existieren konnten. Sie waren beide unfähig, sich abzuwenden oder auch nur die Augen niederzuschlagen. Ein einziges Mal zuvor hatte François so etwas gesehen: bei Larenias und Arthenius’ erster Begegnung. Aber Arthenius und Larenia waren wie die beiden Teile einer Persönlichkeit. Liebe und Vertrauen banden sie aneinander. Doch dieser Druide war das vollkommene Gegenteil der Gildeherrin. Larenia glich mehr denn je einer Lichtgestalt, einer Personifizierung des Guten. Der Brochonier jedoch war eine Verkörperung der Finsternis, der Grausamkeit, all dessen, was man als böse bezeichnen mochte. Unerträgliche Spannung füllte den Raum und die Zeit schien stillzustehen.
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