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Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Kandari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tracy Schoch
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Blut er verloren hatte. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Sie hatte ihre Zofe auf die Suche nach einem vertrauenswürdigen Arzt geschickt. Mehr konnte sie nicht tun. Nie zuvor war sie sich so überflüssig und unfähig vorgekommen. Sie hatte stets geglaubt, die Ergebnisse ihres Handelns nicht erkennen zu können, wäre unerträglich. Doch das stimmte nicht. Die wirkliche Qual war es, untätig danebenzusitzen und dem Leid anderer zuzusehen.
    Nach langer Zeit, so erschien es zumindest Rowena, kam eine Frau mittleren Alters. Ihr Name war Zora und sie stellte für den Untergrund das dar, was einem Arzt am nächsten kam. Kopfschüttelnd betrachtete sie ihren Patienten. Dann verband sie all seine Verletzungen, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Zu den Spuren seiner langen Gefangenschaft hatte sich noch eine tiefe, stark blutende Schulterwunde gesellt, die er sich im Kampf mit den Wachen zugezogen hatte. Zora schien keine große Hoffnung für Pierre zu sehen. Schließlich erteilte sie Rowena noch ein paar knappe Anweisungen, bevor sie sich mit einem kühlen Kopfnicken verabschiedete.
    Als sie wieder allein war, setzte sich Rowena auf die Bettkante und stütze den Kopf in die Hände. Es war später Nachmittag, doch seit ihrem Abschied von Norvan am Morgen schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Nur ein halber Tag, aber Rowena fühlte sich um mindestens fünfzig Jahre älter. Seufzend schloss sie die Augen. Es war so still hier. Keine Unruhen erreichten den Palast und die Regierung, nichts konnte Baruk und sein Terrorregime ins Wanken bringen.
    Das Zuschlagen der Tür unterbrach ihre düsteren Gedanken. Erschrocken sprang sie auf. Aber ihr Schrecken wich sehr schnell Erleichterung, als sie den Eindringling ansah. Es war Norvan, der lächelnd und in ausgezeichneter Laune zurückkam. Er war kaum zwei Schritte in die Raummitte getreten, als Rowena auf ihn zueilte und sich in seine Arme warf. In diesem Augenblick konnte sie die Verantwortung ablegen und bei ihrem Bruder Trost suchen. Norvan schob sie auf Armeslänge von sich und blickte verwundert in ihr Gesicht.
    „Warum bist du so verzweifelt? Alles, was ich in den Straßen Butroks gehört habe, klang gut.“
    „Dann hast du nur die halbe Wahrheit gehört“, die Tränen, gegen die sie seit ihrer Rückkehr angekämpft hatte, liefen ihr nun über die Wangen, „aber Collyn ist auf Andra’graco zurückgeblieben und Pierre ist schwer verletzt.“
    Norvans Lächeln verblasste etwas, ohne ganz zu verschwinden: „Um Collyn musst du dir keine Sorgen machen. Er ist ein Offizier der Armee. Was sollten sie ihm vorwerfen? Dass er versucht hat, den entflohenen Gefangenen einzufangen? Sie werden ihn verhören und vielleicht eine Weile festhalten. Aber sie haben nichts gegen ihn in der Hand. Und was deinen neuen Freund betrifft“, in Norvans Blick mischte sich ein Hauch von Schwermut, als er an alle dachte, die in ihrem Kampf gegen die Terrorherrschaft ihr Leben verloren hatten: seine Mutter, an die er sich kaum erinnern konnte, sein Vater, der für seinen Idealismus gestorben war und all die anderen, Männer und Frauen, die es gewagt hatten zu hoffen. Wie sonderbar, dass ihm das Schicksal dieses Fremden so naheging. Sie hätten Feinde sein müssen, doch Norvan erkannte sich selbst in Pierre wieder. Sie kämpften beide für die Zukunft ihres Volkes und für eine Welt, in der es sich lohnte zu leben.
    „Die Kandari sind ein zähes Volk. Also gib die Hoffnung nicht auf.“
     

Décima
     
     
    „Du hättest wirklich nicht mitkommen müssen, François.“
    „Komisch, das Gleiche wollte ich auch gerade sagen“, am frühen Morgen war er gemeinsam mit Larenia von Magiara in Richtung Navalia aufgebrochen, um über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Jetzt begegnete er Larenias strafendem Blick mit einem entwaffnenden Lächeln: „Ernsthaft, Larenia, ich wurde für derartige Verhandlungen ausgebildet. Warum überlässt du diese Dinge nicht mir?“
    Larenia zuckte nur mit den Schultern, antwortete aber nicht. Jedoch war es nicht ihr unterkühltes Schweigen, das jede weitere Frage unterband. Vielmehr blickte sie nachdenklich den Weg entlang. Sie schien mit ihren Gedanken sehr weit weg zu sein.
    Es war der erste Tag des Décima, des zehnten Monats des Jahres, und der Sommer war nun endgültig vergangen. Noch waren die Tage sonnig und heiter, aber der kalte, scharfe Seewind war deutlich zu spüren. Normalerweise liebte François den Herbst, der in Anoria

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