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Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Kandari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tracy Schoch
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François.
     
    Vier Tage waren inzwischen vergangen, qualvoll langsam, sodass jeder Atemzug eine Ewigkeit zu dauern schien. Und während all dieser Zeit hatte Rowena an Pierres Seite gesessen, gewartet und gehofft auf irgendein Zeichen der Besserung oder auch nur der Veränderung. Inzwischen hatte der neue Monat begonnen. Gestern, am zweiten Tag des Décima, hatten die Druiden Collyn freigelassen, da sie ihm keinerlei Beteiligung an der Gefangenenbefreiung nachweisen konnten. Auch auf Norvan war bisher kein Verdacht gefallen. Eigentlich könnte Rowena zufrieden sein, aber die Sorge um den Kandari, diesen ihr vollkommen Fremden, ließ ihr keine Ruhe. Auch jetzt löste sie sich von ihrem Platz am Fenster und setzte sich auf die Bettkante. Wie oft hatte sie in letzter Zeit sein Gesicht betrachtet und beinahe erwartet, er würde die Augen aufschlagen und sie mit diesem ironischen Lächeln ansehen, das ihr schon im Gefängnis von Andra’graco aufgefallen war. Inzwischen waren die Verletzungen, die sein Gesicht entstellt hatten, etwas abgeheilt, aber er hatte so viel Blut verloren, dass es einem Wunder glich, dass er überhaupt noch lebte.
    Rowena seufzte und strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht. Nie zuvor war sie so allein gewesen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Norvan all seine Freizeit mit ihr zusammen verbracht. Jetzt jedoch konnte er es nicht wagen, zu oft in ihrer Gesellschaft zu erscheinen, wollte er nicht den Anschein erwecken, ihre Anwesenheit im Gefängnis zur Zeit des Ausbruchs sei mehr als Zufall gewesen. Bisher hatten Baruk und seine Druiden sie im schlimmsten Fall für schwach gehalten und diesen Eindruck durften sie nicht zerstören. Daher wagte sie es auch nicht, den Palast zu verlassen. Allerdings konnte sie den gemeinsamen Malzeiten nicht entgehen. Auf diese Weise, das wusste Rowena, versuchte Baruk, seine Familie zu überwachen. Ein altes Sprichwort von Laprak besagte: Suche Verrat, wo du ihn am wenigsten erwartest, und daran hielt sich ihr Onkel. Normalerweise fiel es Rowena leicht, ihre ruhige, zurückhaltende Miene aufrechtzuerhalten, die ihr als jüngstem Familienmitglied, und noch dazu als Mädchen, zustand. Aber jetzt war sie sich der lüsternen Blicke ihres Vetters Brochius und Baruks Misstrauen zu bewusst. Sie war froh, der gespannten Atmosphäre zu entkommen.
    So verbrachte sie den größten Teil ihrer Zeit in ihrem Zimmer in Pierres Gesellschaft, der zwischen Bewusstlosigkeit, Fieberwahn und Schlaf dahintrieb. In seinen wenigen wachen Augenblicken fantasierte er in einer Sprache, die Rowena nicht verstand. Das einzige Ereignis, das ihr zumindest etwas Hoffnung gab, war Zoras Besuch an diesem Morgen gewesen. Bei ihrer Ankunft vor vier Tagen hatte sie Pierre schon aufgegeben. Als sie am nächsten Morgen wiederkam, schien sie einfach nur erstaunt zu sein, ihren Patienten noch lebendig anzutreffen. Heute aber wirkte sie beinahe zuversichtlich.
    Langsam kehrte Rowena aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Sie stützte das Kinn in die Hand und blickte auf den Kandari herab. Wenn er doch aufwachen würde. Sie hätte gern mit ihm gesprochen, mit irgendjemandem, der ihr wohlgesinnt war. Müde schloss sie die Augen und so sah sie nicht, dass Pierre sich bewegte und schließlich sogar die Augen aufschlug.
    „Wenn du einen Schluck Wasser für mich hättest“, flüsterte er, „wäre ich dir sehr dankbar.“
    Rowena sprang auf und wirbelte herum. Sie starrte zur Eingangstür, dann zum Durchgang in das Zimmer ihrer Zofe. Niemand war zu sehen. Langsam und ungläubig drehte sie sich zu Pierre um.
    Er hatte sich in eine halb sitzende Position aufgerichtet, doch selbst diese wenigen Bewegungen schienen ihn alle Kraft gekostet zu haben. Schwer atmend saß er da mit schmerzverzerrtem Gesicht, den linken Arm an den Körper gedrückt. Aber der fiebrige Glanz war aus seinen Augen verschwunden, und als ihm Rowenas überraschtes Gesicht auffiel, rang er sich ein schwaches Lächeln ab.
    „Ich wollte dir keine Angst einjagen.“
    Vielleicht waren es diese Worte oder die Tatsache, dass er trotz seiner Schwäche versuchte, sie zu beruhigen, jedenfalls begann Rowena zu schluchzen. Erleichterung überflutete sie und sie spürte kaum die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ohne darüber nachzudenken, warf sie sich in seine Arme. Pierre zuckte zusammen und das rief sie zurück in die Wirklichkeit.
    Errötend stand sie auf und strich ihr Kleid glatt.
    „Es … es tut mir leid“, stammelte sie,

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