Das Vermächtnis der Montignacs
Raymond.
»Wie kann man dich denn nicht mögen?«, fragte sie und beobachtete im Spiegel, wie er sich hinter ihr entkleidete. Für jemanden, der ein Gutteil seiner Zeit im Gewächshaus verbrachte und dort neue Varianten der Hybrid Tea züchtete, war er erstaunlich muskulös. Es war ein Vergnügen, seinen Körper zu betrachten, denn der gehörte zu den Dingen, die sie an ihm am schönsten fand. »Du bist doch ein Schatz.«
»Danke«, sagte Raymond und lachte verlegen. »Dein Cousin scheint anderer Meinung zu sein.«
»Ach, er ist nur ein wenig eifersüchtig.«
»Auf mich? Warum sollte er?«
Stella biss sich auf die Lippe, denn das Wort »eifersüchtig« war ihr so herausgerutscht. Sie versuchte, ihm eine andere Bedeutung zu geben. »Weil er sieht, wie glücklich wir zusammen sind. Wahrscheinlich wünscht er, er fände auch eine Frau, mit der er glücklich sein kann. An seiner Stelle wäre ich ebenfalls eifersüchtig.«
»Ah«, sagte Raymond, »wenn man es so sieht, ergibt es Sinn. Aber warum sucht er sich dann nicht jemanden? Ich bin sicher, dass es jede Menge Frauen gibt, die sich in ihn verlieben würden. Er ist doch ein gut aussehender Bursche. Die Kellnerinnen im Claridge haben ihn mit Blicken verschlungen.«
»Ja, so etwas kommt des Ãfteren vor«, erwiderte Stella leise.
»Vielleicht wirkt er ein wenig verbissen«, fuhr Raymond fort. »Als SpaÃvogel kann man ihn jedenfalls nicht bezeichnen, aber irgendwo gibt es doch mit Sicherheit eine Frau, die seine Mauern durchbrechen kann, wenn sie das möchte. Hat es denn so jemanden nie gegeben?«
Stella zuckte mit den Schultern. »Doch. Vor langer Zeit, als er noch um einiges jünger war. Ich glaube, die beiden haben sich sehr geliebt.«
»Und was ist aus ihr geworden?«
»Das kann ich dir nicht genau sagen. Es war so um die Zeit, als mein Bruder umgekommen ist. Ich glaube, damals hatte ihre Affäre â oder was es war â ihren Höhepunkt erreicht. Doch dann ist Andrew gestorben, und jeder in der Familie hat entsetzlich gelitten. Eines Tages, als ich wieder halbwegs klar denken konnte, habe ich mich gefragt, was inzwischen aus dieser Beziehung geworden sei. Offenbar war sie da schon vorüber.«
Raymond stieg ins Bett, schob sich die Kissen in den Rücken, lehnte sich dagegen und sah Stella an. »Als Andrew starb, war er erst achtzehn Jahre alt, oder?«
»Ja«, antwortete Stella nach kurzem Zögern. Sie wollte sich an den Jungen erinnern und nicht an so etwas Belangloses wie sein Alter am Tag seines Todes.
»Und Owen war da wie alt?«
»Fünfzehn. Es war ein Jagdunfall. Die beiden Jungen waren erpicht darauf, am anderen Ende des Grundstücks Kaninchen zu schieÃen, nicht weit von der Hütte des Wildhüters entfernt.«
»Du hast mir nie erzählt, was damals im Einzelnen passiert ist«, sagte Raymond. »Aber vielleicht möchtest du darüber nicht sprechen. Wäre ja auch verständlich.«
»Schon gut«, entgegnete Stella. »Wahrscheinlich hätte ich es dir längst erzählen sollen. Es geschah kurz nach Andrews Geburtstag. Er hatte von meinen Eltern ein neues Gewehr geschenkt bekommen. Eines Morgens kam er zum Frühstück und fragte Owen, ob er Lust habe, später mit ihm SchieÃen zu gehen. Owen willigte ein, und sie verabredeten sich für den Nachmittag. Aber kurz vor Mittag stellte Owen fest, dass Andrew offenbar schon losgezogen war, ohne jemandem Bescheid zu sagen, was absolut ungewöhnlich war, denn wenn Andrew sonst irgendwohin wollte, brüllte er durchs ganze Haus, er gehe jetzt, um was auch immer zu tun.«
»Vielleicht ist er ungeduldig geworden«, schlug Raymond vor. »Als ich seinerzeit mein erstes Gewehr bekam, da â«
»Vielleicht«, fiel Stella ihm ins Wort. Sie wollte die Geschichte ihre Bruders erzählen, ohne Ergänzungen aus Raymonds Leben. »Ich weià noch, dass ich mit Owen oben in meinem Zimmer war und er mich fragte, wie spät es sei. Als ich es ihm sagte, wurde er ganz hektisch, sprang auf und lief davon. Ich erinnere mich noch, wie eigenartig ich das fand. Der Witz war, dass er in einer solchen Hast losstürmte, dass er sein eigenes Gewehr in meinem Zimmer vergessen hatte. Als ich ihn über die Einfahrt laufen sah, rief ich ihm vom Fenster aus nach, aber er hörte mich nicht mehr. Fast wäre ich ihm
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