Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Kapitän der Espérance lebte noch lange genug, um zu begreifen, dass er den Luberon, sein Haus, sein Weib und seine Kinder niemals wiedersehen würde.
Dann fiel der nächste Schuss.
Marais, Paris
August 1794
Der Lärm, den der Pöbel in den Straßen entfachte und der einfach nicht abreißen wollte, seit Robespierre die Herrschaft an sich gerissen hatte und blutige Hinrichtungen an der Tagesordnung waren, drang bis in das oberste Stockwerk des alten Mietshauses an der Rue Saint-Antoine, doch die Frau, die in der hintersten Ecke der kleinen Dachkammer kauerte, nahm ihn nicht wahr.
Am ganzen Leib zitternd, mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Mann, der so groß war, dass er unter der schrägen Decke nicht aufrecht stehen konnte. Schwerfällig näherte er sich ihr, das kantige Gesicht ausdruckslos, die schwieligen Fleischerhände drohend erhoben.
»Nein«, kam es tonlos über ihre Lippen, während sie krampfhaft den Kopf schüttelte. »Tu das nicht!«
»Ich habe lange nach dir gesucht«, erwiderte der Hüne mit kehliger Stimme. »Wirklich sehr lange …«
»I-ich weiß«, versicherte sie. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit sie die Sprache zuletzt gesprochen hatte, dennoch fand sie die Worte, selbst in diesem Augenblick. Sie zog die Beine an sich und drängte sich gegen die Mauer, als hoffte sie, dass sich darin eine Öffnung auftun und sie verschlingen würde.
»Hast du ernstlich geglaubt, dass du davonkommen würdest?«, fragte der Hüne. »Hast du gedacht, dass man dich einfach vergessen würde? Dich und dein Kind?«
»Du … weißt es?«
Draußen auf der Straße gab es Geschrei. Vermutlich hatte der Pöbel wieder jemanden entdeckt, der sich noch in den Häusern des Marais aufhielt. Die meisten wohlhabenden Bürger hatten das Viertel schon vor Jahren verlassen und waren aus der Stadt geflohen. Nur ein paar wenige waren geblieben, und es bekam ihnen schlecht, denn das Tribunal kannte keine Gnade. Ein Menschenleben galt nicht viel in diesen Tagen. Ein weiterer Toter auf dem Schafott kümmerte die Leute ebenso wenig, wie es die Leiche einer jungen Frau in einer Dachkammer tun würde …
»B-bitte nicht«, hauchte sie. Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln und rannen über ihr Gesicht, das einen flehenden Ausdruck annahm. »Ich kann nichts für das, was geschehen ist.«
»Vermutlich nicht«, räumte der Hüne ein. »Aber das spielt keine Rolle mehr. Es hätte niemals sein dürfen.«
»Aber ich habe nie ein Wort darüber verloren«, versicherte sie. »Und ich schwöre dir, dass …«
»Schwüre und Versprechen.« Der Hüne schnaubte verächtlich. »Ich habe so viele davon gehört – und doch wurden sie nie gehalten.« Er trat zu ihr, die Hände noch immer erhoben. Sie schrie auf, in heller Todesangst.
»Schrei nur«, knurrte er. »Niemand wird dich hören. Die Leute dort draußen haben andere Dinge zu tun.«
»Ich will nicht sterben!«, flehte sie, wobei ihre tränengeröteten Augen ihn durchdringend anstarrten.
»Du bist bereits gestorben, Serena«, versicherte er. »Schon vor zehn Jahren.«
»Aber du … du verstehst nicht! Ich bin … Ich habe …«
»Wäre es nach mir gegangen, hättest du das Haus schon damals nicht mehr verlassen. Aber auch das spielt nun keine Rolle mehr.«
Er beugte sich langsam zu ihr hinab und streckte die Hände nach ihrem Hals aus. Dabei fiel der Ärmel seines Mantels zurück, und die hässliche Narbe wurde sichtbar, die er am linken Unterarm trug und die sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen zog.
Sie schlug mit ihren Fäusten nach ihm, doch ihre Hiebe prallten wirkungslos von ihm ab, und im nächsten Augenblick schlossen sich seine Pranken um ihre Kehle. Anfangs versuchte sie noch sich zu wehren, zuckte und strampelte, doch seiner überlegenen Körperkraft hatte sie nichts entgegenzusetzen. Der Hüne drückte zu, und indem er seinen Griff immer weiter verstärkte, presste er das Leben aus ihr.
Ihr Widerstand erlahmte rasch, ihre Bewegungen wurden matt und fahrig. In ersterbendem Takt schlugen ihre Fäuste auf den Boden, ihre Beine wischten über die schmutzigen Dielen, während sich ihre Gesichtszüge blau verfärbten. Der Blick ihrer Augen, die in namenlosem Schrecken auf ihn gerichtet waren, wurde leer und leblos – und schließlich fiel der Mantel des Todes.
Der Hüne stöhnte leise, als er von ihr abließ und sich wieder aufrichtete: Ausdruck der Müdigkeit eines Dieners, der seinem Herrn bereits seit langer Zeit zu
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