Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
legte sie das Buch leichten Herzens beiseite und wartete gespannt, wer eintreten würde.
»Winston! Was für eine schöne Überraschung!«
Marys Freude, als Winston McCauley den Salon von Abbotsford betrat, war ehrlich. Sie blieb auf dem Sofa sitzen und wartete, bis der Chirurg ihr seine Aufwartung gemacht hatte. Dann forderte sie ihn auf, ihr gegenüber an dem kleinen Tisch Platz zu nehmen.
»Danke, das ist sehr freundlich«, entgegnete McCauley und setzte sich. Er sah einmal mehr blendend aus in seinen eng anliegenden Reithosen und der tadellos sitzenden Jacke aus Tweed. Um seine Züge spielte ein charmantes Lächeln.
»Was führt Sie hierher?«, fragte Mary, die ihre Überraschung noch immer nicht ganz überwunden hatte.
»Nun, eigentlich wollte ich Sie im Haus der Scotts in Edinburgh besuchen«, erklärte McCauley, »aber dort sagte man mir, dass Sie bereits abgereist seien. Und da mir die Academy für einige Tage frei gegeben hat …«
»… dachten Sie, es wäre an der Zeit, alte Freunde zu besuchen«, vervollständigte Mary.
»In der Tat«, stimmte McCauley zu, »und ich bereue meinen Entschluss keineswegs. Schon die Landschaft hier im Süden lohnt einen Ausflug, selbst bei diesem schrecklichen Wetter.«
»Nicht wahr?« Mary blickte in Richtung der Fenster, hinter deren gewelltem Glas der zum Flussufer hin sanft abfallende Garten zu sehen war. Jenseits davon erstreckten sich die Hügel des Grenzlandes, in Wolken und Nebel nur schemenhaft zu erkennen. »Sir Walter hat dieses Land geliebt. Er hat stets den Wunsch geäußert, hier seine letzten Atemzüge zu tun, den Blick auf den Fluss Tweed gerichtet. Leider«, fügte sie traurig hinzu, »war ihm das nicht vergönnt.«
»Das tut mir wirklich sehr leid«, versicherte McCauley. »Ich kann mir denken, dass diese Tage nicht einfach für Sie sind. Glücklicherweise haben Sie Gesellschaft. Die Familie Scott und Madame Brighid werden sicher dafür sorgen, dass …«
»Brighid ist nicht mehr hier«, erklärte Mary und hoffte, dass er ihr das schlechte Gewissen nicht anmerkte.
»Wie darf ich das verstehen?«
»Nun«, bemühte sich Mary um eine Ausrede, die möglichst plausibel klang, »Sie sagten ja selbst, dass sie unter Menschen müsse, um sich wieder zu erinnern, also kamen wir überein, dass Abbotsford nicht der richtige Ort für sie ist. Überdies …«
»Ja?«, hakte McCauley nach.
»Nichts«, versicherte Mary. Was hätte sie auch noch weiter sagen sollen? Die Wahrheit konnte sie ihm ebenso wenig anvertrauen wie Quentin. »Jedenfalls konnte sie nicht bei uns bleiben.«
»Nun«, meinte McCauley achselzuckend, »vielleicht ist es besser so. Sie hatte ohnehin etwas an sich, das ich …«
»Ja?« Diesmal war es Mary, die nach einer Antwort verlangte.
»Drücken wir es so aus: Ich denke, dass sie sehr wohl um die Wirkung weiß, die ihre geheimnisvolle Aura auf Männer hat.«
»Glauben Sie?« Mary deutete ein Achselzucken an. »Diesen Eindruck hatte ich gar nicht von ihr. Viel eher wirkte sie auf mich wie eine Frau, die sich nicht nur ihrer Herkunft, sondern auch ihrer Rolle in der Gesellschaft alles andere als sicher ist.«
»Wenn Sie meinen.« McCauley zwirbelte seinen Bart. »Wenn sie nicht hier ist, spielt es keine Rolle mehr. Und der gute Quentin ist Ihnen ohnehin treu ergeben, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Mary und zwang sich zu einem Lächeln – während ein Teil von ihr sich gleichzeitig bange fragte, ob McCauley womöglich recht haben mochte. Was Brighids Verführungskünste betraf, so hatte sie sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. War es ein Fehler gewesen, sie von Quentin nach Paisley bringen zu lassen?
»Wie auch immer«, meinte McCauley, »ich bin sicher, Sie haben klug und richtig entschieden. Sie haben sich sicher nichts vorzuwerfen.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Mary leise, während der Zweifel weiter an ihr nagte. »Jedenfalls bin ich froh, dass Sie hier sind«, versicherte sie dann, um das Thema zu wechseln. »Die letzten Tage waren in der Tat nicht einfach.«
»Das kann ich mir vorstellen«, gestand McCauley ein wenig verlegen ein. »Sie müssen wissen, dass es in der Stadt Gerede gibt. Die Leute erzählen sich, dass der Verlag Ballantyne und Partner, bei dem Sir Walters Werke meines Wissens erscheinen, kurz vor dem Bankrott stünde.«
»Das erzählen sich die Leute?« Mary war entsetzt. »So weit ist es also schon gekommen?«
»Ist es denn wirklich so schlimm?«, wollte McCauley wissen.
»Ich weiß es nicht.
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