Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
natürlich nicht«, wiegelte McCauley ab und hob beschwichtigend die Hände. »Es ist nur … der Gedanke, sie allein unter Dieben und Mördern zu wissen …«
»Sie dürfen mir glauben, dass dieser Gedanke auch mir nicht gefällt, lieber Freund«, versicherte Quentin. »Aber es gab nichts mehr, was ich dort noch hätte tun können. Und hier in Abbotsford gibt es wichtige Dinge für mich zu erledigen.«
»Natürlich.« McCauley nickte. »Bisweilen muss man im Leben eben Prioritäten setzen, nicht wahr?«
»Was wollen Sie damit nun wieder sagen?«, fragte Walter.
»Nichts weiter – schließlich bin ich Gast in diesem Haus, und es steht mir nicht zu, die Handlungen meiner Gastgeber in Frage zu stellen. Aber als wir uns an jenem Tag auf dem Schiff zum ersten Mal trafen, da habe ich Sie für einen Ehrenmann gehalten, Quentin. Für jemanden, der ehrenvoll denkt und ebenso ehrenvoll handelt, wenn es darauf ankommt.«
»Und jetzt?«, fragte Quentin.
»Denke ich, dass Sie die ratio über die honestas stellen, wenn die Situation es erfordert. Tief in Ihrem Herzen wissen Sie vermutlich, dass es richtig gewesen wäre, in Airdrie zu bleiben und den Sheriff nach Kräften bei seiner Arbeit zu unterstützen. Aber Sie haben sich dagegen entschieden, und ich bin sicher, dass es dafür gute Gründe gibt. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich werde mich jetzt zur Ruhe begeben. Wahrscheinlich habe ich ohnehin schon zu viel gesagt. Das passiert mir bisweilen, wenn ich unter Freunden bin.«
Damit erhob er sich, verabschiedete sich von den Anwesenden und verbeugte sich vor Lady Charlotte. Dann verließ er das Speisezimmer. Niemand verlor ein Wort über das, was McCauley gesagt hatte, doch der Blick, den Mary Quentin zuwarf, war unverhohlen dankbar.
Quentin fand kaum Schlaf in dieser Nacht.
Sobald er die Augen schloss, sah er sie: Brighid, wie sie vor ihm stand, den Saum ihres Kleides gerafft, ihre Weiblichkeit unverhüllt, der Blick ihrer Augen herausfordernd. Warum nur ging ihm dieses Bild nicht aus dem Kopf? Weshalb hatte es sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt, tiefer selbst als der Anblick des ermordeten Kutschers in seinem Blut?
Vermutlich war es sein Gewissen, das ihn folterte. Nicht nur, weil McCauley vermutlich recht mit seinen Vorwürfen gehabt hatte, sondern auch, weil Quentin sich inzwischen eine Antwort auf die Frage gegeben hatte, die ihn seit seinem Erwachen quälte: Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass er in jenem Moment, da Brighid vor ihm stand, bereit gewesen war, der Versuchung nachzugeben, auch wenn es bedeutete, das Gesetz der Ehe zu brechen und Mary zu verletzen. Und dieses Wissen setzte ihm mehr zu als alles andere.
Immer wieder holte die Erinnerung ihn ein, durchlebte er die letzten Augenblicke vor Brighids Entführung. Ihr Schrei hallte noch immer in Quentins Bewusstsein nach. Sie hatte ihm vertraut, hatte sich auf ihn verlassen, und seine Aufgabe wäre es gewesen, sie unter Einsatz seines Lebens zu beschützen … doch er hatte versagt.
Und weil das noch nicht genügte, hatte er sich feige davongemacht, hatte die Kutsche nach Abbotsford bestiegen und sich gesagt, dass er anderswo dringend gebraucht werde. Dabei war er im Grunde geflüchtet, nicht vor der Pflicht oder vor dem, was der Sheriff ihm möglicherweise abverlangt hätte, sondern vor dem, was wohl geschehen würde, wenn man Brighid fand.
Er richtete sich halb im Bett auf.
Mary lag neben ihm, schlafend.
Am liebsten hätte er sie geweckt, hätte ihr gesagt, was geschehen war und womöglich noch geschehen wäre. Aber er wollte sie nicht verletzen, wollte ihr das nicht zumuten, nach allem, was gewesen war, zumal sie sich doch auf dem Weg der Besserung befand. Er würde damit leben müssen – mit dem, was er getan hatte ebenso wie mit dem, was er unterlassen hatte.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus.
Einem jähen Impuls gehorchend, richtete er sich ganz auf und schwang die Beine aus dem Bett. Auf der Bettkante hockend, frierend und schwitzend zugleich, dachte er noch einmal an all die Fehler, die er gemacht hatte, und bereute sie zutiefst – und hörte plötzlich das Geräusch.
Es war ein leises Knarren, das sich in raschem Rhythmus wiederholte … Schritte! Und sie kamen von irgendwo unter ihm.
Quentin vermochte nicht zu sagen, was es war, das ihn alarmierte. Ob es sein eigener innerer Aufruhr war, die noch immer lebhafte Erinnerung an den Überfall oder seine angeborene
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