Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Vorsicht – irgendetwas nötigte ihn dazu, aufzustehen und nachzusehen. Rasch warf er sich den karierten Morgenmantel über, der ein Geschenk seines Onkels gewesen war, dann schlich er zur Tür der Schlafkammer, öffnete sie einen Spalt und spähte hinaus. Mondlicht, das durch die hohen Fenster fiel, tauchte den Gang in fahles Licht und ließ die Ritterrüstungen, die sich dort aneinanderreihten, lange Schatten werfen.
Wieder war das Knarren zu hören, und jetzt war er sicher, dass es aus dem unteren Stockwerk kam. Mehr noch, Licht drang von unten herauf, und zwar von jenseits der Waffensammlung, von dort, wo sich Walter Scotts Arbeitsräume befanden!
Quentins Herzschlag beschleunigte sich. Seit sein Onkel verschwunden war, hatte niemand diese Räume betreten, weder das Empfangszimmer noch die Bibliothek oder das angrenzende Studierzimmer. Wer, in aller Welt, suchte sie nun ausgerechnet zu nächtlicher Stunde auf? Man brauchte kein Genie zu sein, um sich auszurechnen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Quentin schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte, dann stieg er vorsichtig die steinerne Treppe hinab. Darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch zu verursachen, schlich er durch den schmalen Gang in die Waffenkammer. Noch mehr Rüstungen standen hier, dazu Schwerter und Wappenschilde an den Wänden. In Ermangelung einer Waffe griff Quentin kurzerhand nach einer Streitaxt, die einer der eisernen Junker in der behandschuhten Rechten hielt. Einen Augenblick lang war er überrascht von dem beträchtlichen Gewicht, das die mittelalterliche Waffe hatte, dann fasste er sie beherzt unterhalb des Blatts und schlich damit weiter, der Quelle des Lichtscheins entgegen, der von weißgelber Farbe war und kaum flackerte: Gaslicht.
Fortschrittlich, wie er gewesen war, der Zukunft ebenso zugetan wie der Vergangenheit und neuen Erfindungen gegenüber stets aufgeschlossen, hatte Walter Scott als einer der ersten sein Privathaus mit einer Gasbeleuchtung versehen lassen – um erleuchtet zu werden, wie er stets scherzhaft behauptet hatte. In Wirklichkeit war es ihm wohl eher darum gegangen, vom Tageslicht unabhängig zu sein und bis spät in die Nacht an seinen Werken arbeiten zu können, getrieben von Schaffenskraft einerseits, andererseits aber auch, wie Quentin inzwischen vermutete, von wirtschaftlicher Notwendigkeit.
Lautlos schlich er mit seinen nackten Füßen über den eiskalten, gekachelten Boden der Eingangshalle. Das Licht kam, wie Quentin jetzt feststellte, aus der Bibliothek. Im Türspalt glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen, einen Schatten, der vorüberging. Instinktiv fasste er die Streitaxt fester. Dass er einen ziemlich lächerlichen Anblick bieten musste, wie er so durch die Halle schlich, barfuß im Morgenmantel, die Nachtmütze auf dem Kopf und ein mittelalterliches Kriegsbeil in der Hand, war ihm klar, aber er scherte sich nicht darum. Sein einziges Ansinnen war es, herauszufinden, wer sich zu so später Stunde in Sir Walters Bibliothek zu schaffen machte.
Er erreichte die Tür.
Einen Augenblick lang zögerte er, dann fasste er sich ein Herz und atmete tief ein. Er drückte die Klinke und gab der Tür einen Stoß.
Knarrend schwang sie auf und gab den Blick auf die Bibliothek frei, jenen ehrwürdigen, von Tausenden von Büchern gefüllten Raum, in dem Sir Walter nicht nur einen Großteil seiner Zeit verbracht, sondern auch zahlreiche seiner Werke geschrieben hatte.
In jungen Jahren war dieser Ort Quentin geradezu magisch erschienen, als wäre er der Ursprung besonderer Geistes- und Schaffenskraft, und selbst jetzt, nach all den Jahren und obwohl Sir Walter fort war, hatte er noch immer etwas Ehrfurchtgebietendes. Die Streitaxt halb erhoben, ließ Quentin den Blick über die hohen, teils vergitterten oder mit Glas versehenen Regale schweifen – aber da war niemand. Das Licht, das aus den Leuchtern drang, beleuchtete einen leeren Raum. Doch irgendjemand musste es angefacht haben. Und was war mit den Schritten, die Quentin ganz deutlich gehört hatte?
Sich vorsichtig umblickend, durchmaß er die Bibliothek mit leisen Schritten, passierte den Lesetisch und das Bücherpult und betrat das angrenzende Studierzimmer. Auch dort brannte Licht, und fast erwartete Quentin, seinen Onkel hinter dem Schreibtisch zu erblicken, der sich vor dem großen Fenster erhob – aber auch dort war niemand.
Plötzlich zuckte Quentin zusammen.
War dort draußen nicht gerade eine Gestalt zu
Weitere Kostenlose Bücher