Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
sehen gewesen? Instinktiv hob er die Axt und trat näher an das Fenster, um einen Blick nach draußen in den Garten zu werfen.
Nichts.
Niemand.
Nur die knorrigen Silhouetten einiger Bäume, die sich im Licht des Mondes abzeichneten, und weiter entfernt die Mauer, die den Blumengarten umlief. Vermutlich, sagte sich Quentin, war es nur die Spiegelung seiner eigenen lächerlichen Gestalt gewesen, die ihn so erschreckt hatte.
Noch einmal drehte er eine Runde, spähte in jeden Winkel der mit zahlreichen Rüstungen und Erinnerungsstücken ausgestatteten Bibliothek, fand jedoch nichts Verdächtiges. Schließlich machte er kehrt, löschte das Licht und begab sich wieder zu Bett, nicht ohne die Streitaxt zuvor ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.
Und irgendwann fiel er in unruhigen Schlaf.
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20
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Abbotsford
Am nächsten Morgen
»Und Sie sind ganz sicher, dass all das wirklich geschehen ist, werter Freund?«, fragte Winston McCauley mit nachsichtigem Lächeln. »Immerhin haben Sie einige bewegte Tage hinter sich, und bisweilen pflegen unsere Träume uns Dinge vorzugaukeln, die nur schwer von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind.«
»Es ist wirklich geschehen«, versicherte Quentin, »so wahr ich hier sitze. Ich habe diese Schritte gehört. Und es brannte Licht in der Bibliothek.«
»Seltsam«, meinte Mary, die zusammen mit ihnen am Tisch saß. Infolge der unruhigen Nacht hatte Quentin länger geschlafen, als er beabsichtigt hatte, und so waren nur noch Mary, McCauley und er im Frühstücksraum, der sich im Erdgeschoss des Anwesens befand, gleich neben dem Speisesaal. Der Rest der Familie hatte sein Morgenmahl bereits eingenommen und war bei der Arbeit: Während sich Lady Charlotte der Organisation des Hausstandes widmete, war Charles nach Kelso gefahren, um dort Besorgungen zu machen. Walter und Anne waren am frühen Morgen nach Edinburgh zurückgekehrt, Sophia bereits am Vortag zu ihrem Mann nach Galashiels abgereist.
»Was ist daran so seltsam?«, fragte McCauley. »Jemand wird eben am Abend noch in der Bibliothek gewesen sein und vergessen haben, das Licht zu löschen.«
»Vielleicht«, räumte Quentin ein. »Aber das erklärt noch nicht die Schritte, die ich gehört habe.«
»Und Sie können mit Bestimmtheit sagen, dass diese Schritte aus der Bibliothek gekommen sind?«, hakte der Chirurg nach.
»Nun«, Quentin räusperte sich, »ich …«
»Ich weiß nicht, lieber Freund. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie sich überanstrengt haben und dringend Erholung brauchen. Die aufregenden Ereignisse der letzten Tage waren wohl etwas zu viel für Sie, wer möchte Ihnen das verdenken?«
»Dennoch weiß ich, was ich gehört habe«, beharrte Quentin. Er steckte den Löffel zurück in den Porridge, in dem er ohnehin nur lustlos herumgestochert hatte. Er hatte keinen Hunger an diesem Morgen.
»Das bezweifle ich auch nicht, mein Freund«, versicherte McCauley. »Doch als Mediziner und Mann der Wissenschaft pflege ich mich an das objektiv Verifizierbare zu halten. Und das scheint mir vor allem eine noch spät nachts brennende Gasbeleuchtung zu sein, für die es Dutzende von Erklärungen geben mag. Was zum Beispiel, wenn die Leitungen fehlerhaft installiert sind? Jeder weiß, wie unsicher und gefährlich die Nutzung von Brenngas ist, ich kann kaum glauben, dass jemand so leichtfertig sein und sie in seinem Wohnhaus installieren konnte.«
»Onkel Walter ist stets ein Mann des Fortschritts gewesen, Winston«, erklärte Mary. »In die Vergangenheit gerichtet war sein Blick nur in seinen Romanen.«
»Das will ich gerne glauben. Dennoch, wer einmal gesehen hat, welch schreckliche Zerstörung eine Gasexplosion anzurichten vermag, der vergisst es niemals wieder. In anderen Fällen sind Menschen durch ausströmendes Gas erstickt oder erblindet. Wieder andere haben dabei den Verstand verloren oder sind …«
»Das genügt«, fiel Quentin ihm brüsk ins Wort. »Sie verängstigen Mary.«
»Verzeihen Sie, das lag nicht in meiner Absicht. Aber ich sehe es als meine Pflicht an, Sie als meine Freunde über bestehende Gefahren aufzuklären.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, versicherte Mary, um Ausgleich bemüht.
»Sie sollten die Leitungen untersuchen lassen, um sicherzugehen, dass keine Störung vorliegt«, meinte McCauley. »Aber vielleicht ist das ja auch schon bald nicht mehr von Belang, nicht wahr?«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Quentin.
»Nun …« Der Arzt schürzte die Lippen, das
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