Das Vermächtnis der Wanderhure
Ich muss ein fremdes Kind säugen.«
Im Grunde war ihr auch Lisa fremd, dachte sie, und doch stand ihr das kleine Mädchen trotz seiner Herkunft viel näher als der Sohn der Fürstin. Inzwischen liebte sie es beinahe so, als wäre es tatsächlich ihre Tochter. Während sie die Ziege molk, berichtete Alika ihr mit wenigen Worten und sehr vielen Gesten, dass sie benutzt und dann geschlagen worden war.
Marie unterbrach ihre Tätigkeit und strich ihr zärtlich über die Wange. »Du Arme! Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Vielleicht gibt es in der Küche Kräuter, aus denen sich eine Salbe bereiten lässt, die deine Schmerzen lindert.«
Dabei musste Marie an jenen sonnigen Vormittag in Konstanz denken, wo sie selbst vor der versammelten Stadt halb totgepeitscht worden war. So schlimm war Alika zwar nicht zugerichtet worden, doch als sie mit den Fingern prüfend über den Rücken der Freundin fuhr, zuckte die Mohrin zusammen und sog scharf die Luft ein.
»Wäre deine Haut nicht so dunkel, würde man die Striemen und Blutergüsse sehen. Bei Gott, wie kann ein Mann nur so grausam sein, sich eines Mädchens zu bedienen und es dann so zu schlagen? In welch barbarisches Land sind wir nur geraten?«
Marie schüttelte sich bei dem Gedanken an die Rechtlosigkeit und Willkür, der auch sie ausgeliefert war. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie, wenn sie je von hier entkommen wollte, so viel wie möglich über das Land und seine Bewohner erfahren musste. Sie packte Alika, die nun die Ziege molk, am Oberarm und zog sie zu sich herum.
»Wir werden es schaffen, verstehst du? Wir werden diesen Leuten entkommen und nach Hause zurückkehren.«
Dann begriff sie, was sie gesagt hatte. Alikas Heimat lag noch viel ferner als ihre, und selbst wenn es ihr gelang, Kibitzstein zu erreichen, stand es nicht in ihrer Macht, der Mohrin die Weiterreise in deren Heimat zu ermöglichen. Das Einzige, was sie zu Hause tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass man Alika als Mensch ansah.
»Ich werde dir beistehen, was auch immer geschehen mag. Solange wir hier sind, kann ich mir jedoch selbst kaum helfen. Also müssen wir so bald wie möglich von hier fort. Dafür aber ist es notwendig, dass wir die Sprache dieser Leute lernen und erfahren, welcher Weg uns in die Freiheit führt. Nun aber gib mir den Napf. Die Milch reicht für Lisa.«
Die Schwarze nickte, obwohl sie nur einen Bruchteil von Maries Worten verstanden hatte. Eines war ihr jedoch klar geworden: Ihre Freundin war nicht bereit, sich so ohne weiteres in ihr Schicksal zu fügen, und das machte auch ihr Mut.
Marie wollte Alika mit in die Küche nehmen, doch ihre Freundin weigerte sich, den Stall zu verlassen. Da Lisas Quengeln lauter wurde, verabschiedete sie sich hastig und eilte davon. Draußen blickte sie zum Himmel auf, der viel blasser wirkte als in ihrer Heimat. Es war nicht mehr weit bis zum Sommer, und doch strich der Wind kühl über das Land und brachte sie zum Frösteln. Ihr wurde bewusst, wie gering ihre Chancen waren, von hier zu entkommen. Sie war nun so etwas wie eine Leibeigene, und das erschwerte ihr Vorhaben erheblich. Wenn sie ihre Flucht gut vorbereiten wollte, benötigte sie neben der Sprache umfangreiche Kenntnisse über die Einwohner, deren Sitten und vieles andere mehr. Vor allen Dingen musste sie an Geld kommen und ihre Vorbereitungen in größter Heimlichkeit treffen, denn wenn man sie dabei erwischte, würde es ihr weitaus schlimmer ergehen als Alika. Auch mochte es schwierig werden, die Mohrin mit auf die Flucht zu nehmen, denn die Leute würden sich wohl noch Jahre danach an eine Frau mit einem Kleinkind erinnern, die von einem Mädchen mit rußfarbener Haut begleitet worden war.
Sie blieb stehen und starrte für einen Augenblick ins Leere. »Bei Gott! Auffälliger könnte selbst der Kaiser kaum reisen.« Gleichzeitig fühlte sie, dass sie es nicht übers Herz bringen würde, Alika, die sich im Bauch der Geit so aufopferungsvoll um sie gekümmert hatte, hier zurückzulassen.
XIV.
A uch auf Kibitzstein begann der Frühling dem Sommer zu weichen. In Michel Adlers Herzen herrschte jedoch noch immer Winter. Er hatte Maries Tod nicht überwinden können und saß oft auf dem Söller der Burg, um ins Nichts hineinzustarren. Er sah weder das blühende Land mit seinen Weinbergen noch den Fluss, der unten im Tal seine Schleifen zog, sondern dachte nuran die glücklichen Tage, die er und Marie miteinander erlebt hatten.
Die Menschen auf Kibitzstein, die
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