Das Vermächtnis der Wanderhure
Russisch, um seine Worte deuten zu können, griff aber zu und versuchte verzweifelt, sich selbst, Lisa und die Ziege auf dem Wagen festzuhalten. Alika nahm ihr schließlich die Geiß ab und hielt sie mit einem Arm fest, während sie sich mit dem anderen an einen Strick klammerte, der quer über den Wagen gespannt war, um die Ladung zu sichern.
Das Lachen schien die Kräfte erneuert zu haben, denn als es jetzt weiterging, hielten selbst die Frauen den strammen Laufschrittdurch, zumindest bis zum nächsten Dorf. Dort konnten sie endlich zu Atem kommen, denn Fürst Dimitri hatte sich entschlossen, einen Rasttag einzulegen, um mit dem in der Ortschaft residierenden Bojaren zu verhandeln. Das Gebiet, das dieser verwaltete, gehörte zwar seit einer Generation zum Moskauer Großfürstentum, doch die Bewohner des Landstrichs hatten ihre frühere Unabhängigkeit noch nicht vergessen.
II.
M arie war erst einmal nur froh, Wasser trinken und sich in eine Ecke setzen zu können. Die Kindsmagd der Fürstin brachte ihr den kleinen Wladimir, dem die Reise nicht gut bekommen war, denn er hatte Durchfall und greinte in einem fort. Er wollte auch kaum trinken, und wie es aussah, machte man ihr das zum Vorwurf. Als der Kleine rebellisch ihre Brust verweigerte, reichte Marie ihn an die junge Magd zurück.
»Du musst ihn richtig säubern und seinen Hintern mit einer heilenden Salbe einreiben. Außerdem braucht er dringend Tee aus Frauenmantelblättern oder getrockneten Heidelbeeren gegen seinen Durchfall.« Marie versuchte ihre Rede mit Gesten zu untermalen, doch die junge Frau starrte sie nur verständnislos an und verschwand, ohne darauf zu reagieren.
Marie sah ihr kopfschüttelnd nach und drehte sich dann zu Alika um. »Ich will zusehen, ob ich nicht ein paar Kräuter für den Jungen finde. So geht er uns zugrunde.«
Die Mohrin stand auf, um ihr zu folgen. Marie aber winkte ihr zu bleiben. »Ruh dich aus, du bist erschöpft genug.«
»Du auch! Kommen mit.« Allmählich konnten sie sich ein wenig verständigen, wenn es auch mühsam war.
Marie nickte Alika lächelnd zu und sah sich um. Der Platz, auf dem der Reisezug angehalten hatte, wurde von mehreren großenGebäuden aus Holz begrenzt, unter denen sich eine Herberge, das Wohnhaus des hiesigen Machthabers und eine Kirche mit zwiebelförmiger Turmspitze befanden. Nordwärts schlossen sich die Hütten der Handwerker und Bauern an, und dort lagen auch die Felder, auf denen noch kräftig gearbeitet wurde. Gen Süden hin erstreckte sich dichter Wald, in dem hohe Birken mit weißen Stämmen und hellgrünem Laub vorherrschten. Dorthin wandte sich Marie in der Hoffnung, das zu finden, was der kleine Prinz benötigte.
Weder sie noch Alika bemerkten, dass Andrej ihnen folgte, und erschraken, als er just in dem Moment nach ihnen griff, als sie das Tor des etwas mehr als mannshohen Palisadenzauns passieren wollten.
»Wo wollt ihr hin?«, schnauzte er sie an.
Sein Tonfall ließ Alika zusammenzucken, doch Marie wies auf den Wald. »Ich will Kräuter suchen für den Jungen, für Wladimir!«
Froh, dass ihr der Name des Kindes noch rechtzeitig eingefallen war, versuchte sie dem Gefolgsmann des Fürsten mit Gesten zu erklären, dass sie bestimmte Blätter pflücken wollte. Zu ihrer Erleichterung ließ er sich von ihr durch das Tor auf das nächste Grün zuziehen. Er sah zu, wie sie eines der am Wegrand wachsenden Kräuter pflückte. Sie zerrieb es zwischen den Fingern, so dass der aromatische Duft aufstieg, und ließ ihn daran riechen.
»Wladimir ist krank! Er braucht Medizin, versteht Ihr?« Sie wiederholte einige der Worte, an die sie sich erinnerte, auf Latein.
Andrej schüttelte verwirrt den Kopf, denn er verstand zwar halbwegs, was sie meinte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Sklavin diese Sprache beherrschte. Noch mehr wunderte ihn, dass die Frau sich einbildete, der Kräuterkunde mächtig zu sein und dem Sohn des Fürsten helfen zu können. Das setzte ein Wissen voraus, welches nur wenige Menschen besaßen. Neugierig geworden, welche Pflanzen sie sammeln würde, gab er seineZustimmung und machte ihr begreiflich, dass er sie und die Schwarze begleiten würde.
Marie war es recht, denn es mochte für zwei Frauen nicht ungefährlich sein, im Schatten des Waldes herumzulaufen. Sie hatte jedoch nicht vor, sich von dem Krieger einschüchtern zu lassen. Daher ignorierte sie ihn, wandte sich Alika zu und nannte dieser die in ihrer deutschen Heimat gebräuchlichen Namen
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