Das Vermächtnis der Wanderhure
mehr auf sie, sondern winkte Marie heran. »Verstehst du Russisch?«
Marie schüttelte den Kopf, obwohl sie die Bedeutung dieser Worte inzwischen kannte. Anastasia wechselte jetzt in eine andere Sprache, die Marie ebenso fremd war. »Kannst du vielleicht Griechisch?«
»Nein, Herrin, ich verstehe Euch nicht! Außer meinem Deutsch beherrsche ich nur ein wenig Latein und Tschechisch.« Da Latein die im Westen am meisten verbreitete Sprache war und jeder Priester und alle Gebildeten sie sprachen, wiederholte sie ihre Worte bruchstückhaft in dieser Sprache, in der Hoffnung, dass es wenigstens eine Person im Gefolge des fürstlichen Paares gab, die sie verstand. Anastasia zog hilflos die Schultern hoch undblickte Andrej fragend an. Dieser hatte seine wenigen Brocken Latein von einem Gesandten des polnischen Königs Wladislaw Jagiello gelernt und kratzte nun das zusammen, an das er sich erinnerte. So gelang es ihm mühselig, sich mit der Sklavin zu verständigen.
»Sag ihr, dass ich sie wegen ihrer Kräuter in meiner Nähe haben will. Mich plagt schon seit Tagen ein Katarrh, der nicht weichen will«, befahl Anastasia. Das Letzte stimmte zwar nicht, denn Nase und Lunge der Fürstin waren so gesund, wie sie nur sein konnten, doch sie wollte Andrej nichts von ihren weiblichen Beschwerden verraten, da sie annahm, dass er ihre Worte an ihren Gemahl weitertragen würde.
Der junge Mann gab ihre Worte stockend und mit vielen Gesten weiter. Der angespannte Gesichtsausdruck der Fürstin zeigte Marie deutlich, dass dieser etwas auf der Seele lag. Um mehr zu erfahren, musste sie die hiesige Sprache lernen, und so bat sie Andrej um jemanden, der sie Russisch lehren konnte. Der Recke nickte versonnen und überlegte, wer für diese Marija als Lehrer in Frage kam. In Pskow und Nowgorod oder auch in Moskau wäre dies kein Problem gewesen, denn dort gab es genügend Leute, die Deutsch verstanden. Worosansk aber zählte nicht zu den bedeutenderen Städten Russlands, und er kannte niemanden, an den er sich hätte wenden können. Zu weiteren Überlegungen kam er nicht, denn eine Magd drängte herein und zupfte ihn keck am Ärmel seines Hemdes.
»Wo bleibst du, Andrej Grigorijewitsch? Der Fürst verlangt nach dir. Er will den hiesigen Bojaren aufsuchen.«
Andrej, der froh war, sich zurückziehen zu können, verneigte sich etwas knapper als bei seinem Auftauchen und verließ fluchtartig den Vorraum. Marie war stehen geblieben, sie wusste nicht, ob sie Andrej folgen oder bei der Fürstin bleiben sollte. Nun blickte sie Anastasia fragend an. Deren Geste forderte sie unmissverständlich auf, bei Wladimir zu bleiben und die Kinderfrau zu ersetzen.Da Marie sich nicht gleichzeitig um beide Säuglinge kümmern konnte, deutete sie auf Alika und bat die Fürstin mit beredten Gesten, die Mohrin als Helferin behalten zu dürfen.
Es war nicht die erste Begegnung Anastasias mit einer dunkelhäutigen Frau, denn in ihrer Heimatstadt Konstantinopel waren schwarze Sklaven keine Seltenheit. Dennoch ekelte sie sich vor diesen Wesen, die in ihren Augen keine richtigen Menschen waren, und gab sich auch keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Am liebsten hätte sie die Mohrin weggeschickt, doch dann wurde ihr bewusst, dass diese ebenso wie die kräuterkundige Amme keine Freunde oder Verwandten in Russland hatte und allein auf ihre Gnade angewiesen war. Aus diesem Grund würden diese beiden Sklavinnen alles tun, um den Thronfolger bei bester Gesundheit zu erhalten. Um ganz sicherzugehen, wollte sie den beiden zeigen, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie versagten. Sie winkte ihrer Haushofmeisterin und deutete auf Marie und Alika. »Bring die beiden Weiber in den Hof. Sie sollen zusehen, wie es jenen ergeht, die mir schlecht dienen!«
Die Matrone griff mit spitzen Fingern nach Maries und Alikas Ärmel und zog die Sklavinnen mit sich ins Freie. Auf dem kleinen Platz zwischen Küche, Stall und Haupthaus hatten sich die meisten anderen Bediensteten des Fürstenpaars und Knechte der Herberge versammelt und starrten auf die Stallwand.
Dort fesselte ein bulliger Mann mit kurz geschorenen Haaren in einem knielangen Kittel die in Ungnade gefallene Kindsmagd an einen der Ringe, durch die sonst die Zügel der Pferde geschlungen wurden. Dann riss er ihr den Kittel und das Hemd vom Leib, so dass man sehen konnte, wie sich ihr Körper verkrampfte und zitterte. Der Knecht trat mit einem musternden Blick zurück, als wolle er Maß nehmen, griff gemächlich nach einer
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