Das Vermächtnis der Wanderhure
bestrafen? Immerhin habe ich ihn und uns vor Tod oder Gefangenname bewahrt.«
»Du hast ihm gezeigt, dass du besser bist als er, und das mag er nicht. Sein Bruder Jaroslaw hätte sich trotz seiner Jugend nicht so leicht in die Falle locken lassen, denn der ist bereit, auf seine Ratgeber zu hören, und schlägt keine Warnungen in den Wind.«
Andrej starrte seinen Onkel ungläubig an. So offen hatte Lawrenti den älteren Sohn seines verehrten Fürsten Michail noch nie kritisiert. Die Worte grenzten an Hochverrat, und kämen sie Dimitrizu Ohren, würde dieser ihn foltern und auf bestialische Art hinrichten lassen.
Ein rascher Blick in die Runde zeigte ihm, dass niemand sie belauscht haben konnte. Dennoch hob er mahnend die Hand. »Du solltest vorsichtiger sein, Onkel. Der Herr von Worosansk ist nun einmal Dimitri, und er liebt seinen Bruder nicht gerade.«
»Er hasst ihn noch mehr als den jungen Großfürsten und fürchtet, Jaroslaw könne einen Weg finden, ihn zu stürzen. Aus welch anderem Grund hält er ihn beinahe wie einen Gefangenen? Der Junge darf keinen Schritt ohne Bewachung tun, weil Dimitri Angst hat, er könnte nach Moskau fliehen und Wassili Wassiljewitsch auf seine Seite bringen.«
Lawrenti gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen, und stürzte Andrej damit in ein Dilemma. Der junge Edelmann betrachtete seinen Fürsten trotz aller Gehässigkeiten und der unvermittelten Wutanfälle als Freund, und bis zu diesem Tag hätte er sein Leben für ihn gegeben. Jetzt aber krochen auch in ihm Zweifel hoch, und er hatte das Gefühl, als schwinde die bedingungslose Treue zu Dimitri, die sein Leben bis jetzt bestimmt hatte.
Er schüttelte sich, um die giftigen Gedanken zu vertreiben, die sich wie hässliches Gewürm in ihm breit machten. »Diese Worte will ich nicht gehört haben, Onkel. Wer weiß, wie Jaroslaw sein würde, nähme er Dimitris Stelle ein. Bis jetzt ist er nur ein unbeholfenes Kind.«
»Das bist du ebenfalls – ein Junge, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist.« Lawrenti wandte ihm verärgert den Rücken zu und schritt zur Tür, um, wie er laut ankündigte, die Wachen zu kontrollieren.
Andrej suchte mit in sich gekehrter Miene das Lager auf, das er sich vor dem Besuch bei Sachar mit seinem Mantel reserviert hatte. Aber er fand keine Ruhe, an diesem Tag war zu viel über ihn hereingebrochen.
VI.
A m nächsten Morgen zwang Lawrenti Sachar und seinen ältesten Sohn, Fürst Dimitri zu begleiten. Der Bojar musste von den Knechten auf ein Fuhrwerk gehoben werden und stöhnte und fluchte in einem fort. Am Abend ging es ihm immer noch so schlecht, dass seine Begleiter ihn in die Kate tragen mussten, in die man ihn und seinen Sohn einsperrte. Derweil forderte der Fürst von Worosansk das größte Gebäude des Dorfes für sich und seine Gefolgsleute und ließ die Bewohner, die es nicht freiwillig verlassen wollten, durch seine Tataren vertreiben. Das Gebäude reichte jedoch nicht für alle, und so mussten die Nachbarn ihre Häuser für das restliche Gefolge räumen. Dimitri schien nicht zu bemerken, dass die Bauern hinter seinem Rücken drohend die Fäuste schüttelten; Lawrenti aber schätzte die Situation richtig ein und ließ auch hier Wachen aufstellen, um die Bewohner des Ortes daran zu hindern, ihre eigenen Häuser anzuzünden. Als Andrej mit drei anderen Edelleuten zum Wachdienst eingeteilt wurde, beschwerte er sich nicht, denn auch er kannte die vielen Erzählungen über Racheaktionen dieser Art.
Kaum hatte sich der Fürst zur Ruhe begeben, wandte Lawrenti sich kopfschüttelnd an seinen Neffen. »Freundliche Worte und ein paar Münzen hätten für ein herzliches Willkommen gesorgt, doch unser Herr hat in Pskow zu viel Geld ausgegeben und weiß sich nur noch mit Gewalt zu helfen. Diese Begebenheit wird in Moskau ebenso bekannt werden wie der Zusammenstoß mit Sachar Iwanowitsch, und das dürfte Dimitris Namen noch verhasster machen. Ich bin sicher, dass Wassili II. und seine Berater, die bisher noch gehofft haben, Worosansk in den Kreis ihrer Verbündeten aufnehmen zu können, unseren Fürsten jetzt als Feind ansehen und auf sein Verderben sinnen. Es war äußerst unklug von Dimitri, sich so offen zu Juri von Galic zu bekennen, der kurz nach Wassilis Thronbesteigung die Hand nach dessen Kroneausgestreckt hat. Das wird man in Moskau aufmerksam registrieren, und Vytautas von Litauen wird es ebenfalls ins Kalkül ziehen – und der ist für uns noch gefährlicher als sein
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