Das Vermächtnis der Wanderhure
russischer Enkel.«
Die Nervosität, die die Krieger ergriffen hatte, färbte auch auf die Mägde ab. Hatten die Frauen an den anderen Abenden noch eine gewisse Zeit zusammengesessen und miteinander gescherzt und gesungen, so taten sie an diesem still ihre Arbeit und sahen so aus, als würden sie sich am liebsten in die Mauselöcher verkriechen, von denen die Katen nicht wenige aufwiesen. Marie bedauerte die schlechte Stimmung, denn die sanften, ein wenig melancholisch klingenden Singstimmen der Mägde hatten den kleinen Wladimir an den anderen Abenden beruhigt und fester schlafen lassen.
Der Durchfall des Jungen war inzwischen fast abgeklungen, aber sie hielt es dennoch für nötig, dem Kind noch einige Male den Tee einzuflößen, der ihm geholfen hatte. Dazu benötigte sie frische Kräuter.
Als sie das Gehöft verlassen wollte, folgte Andrej ihr und hielt sie auf. »Ich brauche frische Zutaten für Wladimirs Tee, denn er ist noch nicht gesund«, erklärte Marie in einer Mischung aus Deutsch und Latein. Um den Edelmann zu überzeugen, zählte sie ihm die lateinischen Namen der Pflanzen auf, die sie suchen wollte.
Andrej starrte kurz ins Leere, als könne er sich nicht entscheiden, und rief dann sechs Waffenknechte zu sich. »Wir müssen die Deutsche in den Wald begleiten.«
Einer der jüngeren Männer verzog spöttisch den Mund. »Wir alle sieben? So viel hält die doch gar nicht aus.«
»Idiot! Die Frau will Heilkräuter für Prinz Wladimir suchen. Aber wir können sie wegen der Leute, die wir in den Wald gescheucht haben, nicht allein gehen lassen.«
Ein älterer Krieger hob die Hände zum Himmel, als wolle erGott um Verzeihung anflehen. »Das war keine gute Tat! Die Bauern hätten uns Obdach gewährt und ihre Vorräte mit uns geteilt, wie es die Gastfreundschaft erfordert. Aber jetzt ist Feindschaft zwischen ihnen und uns gesät, und das kann jeden von uns, den Fürst Dimitri in diese Richtung schickt, das Leben kosten.«
Einer seiner Kameraden trat ihm auf den Fuß. »Halt um Gottes willen den Mund!«
Andrej sah den Männern an, dass man ihn als Freund und wahrscheinlich auch als Zuträger des Fürsten ansah und sich deswegen vor ihm in Acht nahm. Verärgert winkte er ihnen, ihm zu folgen, und wandte sich dann an Marie.
»Wo, glaubst du, kannst du die Kräuter finden, die du suchst?« Er sprach ein Gemisch aus Russisch und Latein, dessen Sinn Marie schon besser verstand, als er ahnte.
Sie ging auf eine Gruppe von Birken zu, in deren Mitte Nadelbäume standen. Andrej schloss sofort auf, und seine Krieger marschierten aufmerksam sichernd hinter ihm her, die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter und Äxte gelegt. Sie hatten die letzten Hütten noch nicht passiert, da stolperte Alika schlaftrunken aus dem Haus und lief ihnen nach. Als sie Marie eingeholt hatte, schüttelte sie mit verkniffener Miene den Kopf. »Land hier nicht gut für Flucht.«
Marie sah sie verblüfft an. »Wie meinst du das?«
»Zu viel Kampf, zu viel Mann mit Waffe.« Alika schien die Vertreibung der Dörfler als Eroberung oder Raubzug anzusehen und glaubte nun, es würde überall in diesem Land so zugehen.
Marie konnte ihr nicht widersprechen, da sie die Gegend und ihre Bewohner nicht kannte, und ihr grauste allein schon bei der Vorstellung einer Flucht zu zweit, denn sie erinnerte sich noch gut an die Lehren ihrer Wanderjahre. Selbst im Reich konnten Frauen nur in vertrauenswürdiger Begleitung reisen, wenn sienicht Gefahr laufen wollten, von jedem brünstigen Lümmel ins Gebüsch gezerrt zu werden. Frauen niederen Standes, die nicht von Gefolgsleuten oder bewaffneten Knechten beschützt wurden, mussten in größeren Gruppen reisen oder sich Handelszügen anschließen, deren Führer ihre Begleitung akzeptierten. Nichts davon kam für sie und Alika in Frage, also würden sie heimlich durch das Land schleichen und Häuser und Dörfer meiden müssen.
In ihre Gedanken verstrickt, übersah sie beinahe die erste der Pflanzen, die sie sammeln wollte. Alika hatte jedoch die ihr schon bekannten Blüten entdeckt und zupfte ihre Freundin am Ärmel.
»Da, schauen!«
Marie blickte auf, musterte den Busch, der kaum höher war als eine Handspanne, und nickte ihrer Freundin dankbar zu. »Alika, du bist ein Schatz. Das ist genau das Kraut, das wir am dringendsten brauchen.«
Sie kniete neben den Pflanzen nieder, blickte fordernd zu Andrej auf und deutete auf seinen Dolch. »Ich brauche ein Messer!«
Beim letzten Mal hatte sie die Kräuter
Weitere Kostenlose Bücher