Das Vermächtnis der Wanderhure
Einwohnern der Stadt weiß ich nicht einmal, welchem Gewerbe sie nachgehen. Jeder von ihnen könnte ein Spion sein, der einem Kaufmann oder Reisenden, der ebenfalls in Wassilis Diensten steht, unauffällig berichtet, was er erfahren hat.«
Dimitri schlug zornig mit der Faust durch die Luft, als wolle er einen imaginären Feind mit einem Hieb fällen. Dann aber nickte er, denn die Erklärung seines Gefolgsmannes leuchtete ihm ein. Nun ärgerte er sich, weil er die Möglichkeit, Sachar Iwanowitsch in Moskau zu diskreditieren, leichtfertig aus der Hand gegeben hatte. Er gab jedoch nicht sich selbst die Schuld dafür, sondern Lawrenti.
»Du hättest mir vorher sagen müssen, was ich diesem verräterischen Bojaren noch antun kann. Zu was bist du mein Waffenträger und mein Berater? Bei Gott, dem Allmächtigen, mit welch tumben Gefolgsleuten bin ich nur geschlagen?«
Die Angst vor seinem Jähzorn verhinderte, dass ihm irgendjemand widersprach. An den Gesichtern um sich herum konnte Andrej jedoch ablesen, dass sich seine Kameraden, die wie er aus alten Worosansker Adelsgeschlechtern stammten, durch diese Schmähung verletzt fühlten. Wenn Fürst Dimitri nicht bald zu der leutseligen Art seiner Jugend zurückfand und begriff, dass er mit freundlichen Worten und einem Lob mehr erreichen konnte als mit seinen ständigen Drohungen, würde sich der eine oder andere aus seinem Gefolge möglicherweise einen anderen Herrn suchen. Im Augenblick führte der vielversprechendste Weg nach Moskau, und jeder, der ihn wählte, würde die Macht des dortigen Großfürsten stärken. Schon der Auszug einer Hand voll einst zuverlässiger Gefolgsleute würde die Handlungsfreiheit des Fürsten von Worosansk einschränken und die Freiheit seines Landes gefährden.
Andrej nahm sich vor, mit Dimitri über seine Sorgen zu sprechen und ihm ins Gewissen zu reden. Dafür musste er einen Zeitpunktfinden, an dem sein Jugendfreund gut gelaunt und Argumenten zugänglich war.
Jetzt galt es erst einmal, ihn zu beruhigen. »Was kümmert uns Sachar Iwanowitsch, Herr? In den Augen Moskaus hat er bereits versagt, und es gibt genug Männer unter Wassilis Gefolgsleuten, die sich seine Schwäche zunutze machen werden. Reiten wir nach Hause! Ich sehne mich nach meinem Bett und habe das Gefühl, schon viel zu lange fort gewesen zu sein.«
»Was bist du für ein Recke, Andrej? Willst wie ein Weib im weichen Bett schlafen! Im Krieg müssen dir die Diener wohl Decken und Matratzen hinterhertragen.« Der Fürst lachte schallend auf und winkte dann dem Wagenzug, weiterzufahren.
Andrej fand sich im Zentrum spöttischer Blicke wieder und konnte seine Enttäuschung nur dämpfen, indem er sich daran erinnerte, wie oft er den Hofnarren gespielt hatte, um eine bedrohliche Situation abzuwenden. Früher hatte ihm das Spaß gemacht, doch jetzt empfand er so viel Zorn, dass er Dimitri am liebsten an die Kehle gesprungen wäre. Anstatt anzuerkennen, was er für ihn getan hatte, machte sein Fürst ihn vor allen Leuten lächerlich. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und reihte sich erst hinter allen anderen Edelleuten in den Reisezug ein.
Lawrenti sah sich zu seinem Neffen um und lächelte still vor sich hin. Wie es aussah, war Fürst Dimitri gerade dabei, seinen treuesten Gefolgsmann zu verprellen.
Marie konnte die Spannung zwischen den Männern spüren. Zwar verstand sie nicht genau, um was es ging, doch die Mienen der Beteiligten verrieten ihr viel. Der Fürst war eifersüchtig auf Andrej, aus welchen Gründen auch immer, und schien ihn deshalb schlecht zu behandeln. Während sie noch überlegte, wie sie sich diese Situation zunutze machen könnte, verließ der Wagenzug den Wald und rollte auf eine Stadt zu. Das musste Worosansk sein, dessen Name in den letzten Tagen immer öfter gefallen war.
Der Ort war auf einem flachen Hügel über dem Südufer eines Flusses errichtet worden, den ihre Begleiter Wolga nannten. Die weiß gekalkte Mauer, die die Stadt umgab, wurde von drei Toren durchbrochen, die von je zwei mit Schieferplatten gedeckten Türmen gesichert waren. Von den Gebäuden dahinter waren nur die Dächer und die Glockentürme der Kirchen sowie die auf dem höchsten Punkt gelegene Festung zu sehen, die ihrerseits noch einmal von einer glatten weißen Mauer umschlossen wurde. Die Größe der Stadt beeindruckte Marie, denn allein schon der Kreml, wie die innere Befestigung genannt wurde, war so groß wie eine kleinere deutsche Stadt. Innerhalb der Stadtfestung
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