Das Vermächtnis der Wanderhure
Schwarze völlig entgeistert an.
VIII.
D ie wuchtigen Mauern des Worosansker Kremls umschlossen mehr als ein Dutzend große und etliche kleinere Bauwerke, die bis auf die Kirche und ein großes, nicht zu der hiesigen Bauweise passendes Gebäude aus Holz errichtet worden waren. Doch im Gegensatz zu den Häusern außerhalb der Stadtfestung waren alle einheimisch wirkenden Gebäude mit bunten Schieferplatten gedeckt. Auf den Grünflächen zwischen den Häusern weideten Kühe und Pferde, was der Anlage trotz der hohen Mauer den Charakter eines seltsamen Dorfes verlieh, das sich um ein protziges Herrenhaus gruppiert.
Als der Wagen zwischen den Häusern hindurchrollte, sah Marie, dass einige Gebäude an den Stirnseiten hornartige Aufsätze trugen, während andere mit grob geschnitzten Bildwerken geschmückt waren, die Menschen und verschiedene Tiere darstellten. Wäre das Areal, welches die Mauer umschloss, nicht so riesig gewesen, hätte man das Ganze eher für den Gutshof eines überspannten Edelmanns halten mögen als für den Wohnsitz eines Herrschers über ein freies Fürstentum. Nun musste Marie über sich selbst lächeln, denn sie hatte sich, als die Küchenmagd Gelja ihr den Kreml von Worosansk beschreiben wollte, nicht nur wegen der Verständigungsschwierigkeiten so etwas Ähnliches wie eine der Burgen aus ihrer Heimat vorgestellt.
»Ein seltsames Land ist das hier«, raunte sie Alika zu und strich Lisa, die auf deren Schoß saß, die Haare aus der Stirn. Sofort begann Wladimir zu greinen.
Während Marie versuchte, den Prinzen zu beruhigen, nickte die Mohrin, wiederholte ein paarmal die Worte »Seltsam Land!« und zeigte dabei in die Runde.
Marie begriff, dass Alika diese Umgebung noch fremdartiger vorkommen musste. Als ihre Verständigung besser geworden war, hatte die Mohrin versucht, ihr einen Eindruck von ihrer Heimat zu vermitteln. Ihr Volk lebte an einem großen Strom, wohl ähnlich dem Rhein. Dorthin waren Männer in weiten blauen Gewändern gekommen, um von ihrem Herrscher Sklaven gegen Salz einzutauschen, und so war auch sie zu einer Ware geworden. Die Menschenhändler hatten sie durch ein heißes, flimmerndes Land aus Sand und Steinen geschleppt, von dem Alika vor allem der entsetzliche Durst in Erinnerung geblieben war, unter dem sie tagelang hatte leiden müssen.
Irgendwo in dieser Wüste hatten die blau gekleideten Männer sie an Männer in weißen Gewändern verkauft und diese sie wiederum an andere Händler. Mit dem größten Teil der Sklaven war sie an eine Küste gebracht und in ein Schiff gesteckt worden. Dieses hatte seinen Bestimmungsort nie erreicht, denn Piraten hatten es überfallen und die Besatzung teils getötet und teils gefangen genommen. Danach war Alika wie ein Gewürzpaket von Hand zu Hand gewandert, bis sie auf die kleine Flussbarke von Jean Labadaire geschafft worden war. Dort hatte man ihr befohlen, sich um die nicht ansprechbare Mutter und ihr kleines Mädchen zu kümmern.
Marie blicke Alika dankbar an, denn wenn diese sich ihrer nicht so liebevoll angenommen hätte, würde Lisa nicht mehr am Leben sein und sie wahrscheinlich auch nicht. Dann schüttelte sie die Erinnerung ab, denn der Wagen blieb jetzt auf einer der Grasflächen stehen, und sie wollte keinen Hieb mit dem Stock bekommen, weil sie mit offenen Augen träumte.
Der Kutscher befahl den Frauen abzusteigen. Gelja, die russische Magd, sprang als Erste zu Boden und nahm Marie den Prinzenab, so dass diese hinunterklettern konnte. Dann deutete sie auf einige Gebäude, die von einer Art Palisadenzaun umschlossen waren und von zwei Kriegern bewacht wurden.
»Terem!«, verstand Marie. Soviel sie gehört hatte, war der Terem der Bereich der Frauen im Palast, und sie hatte sich darunter so etwas Ähnliches wie die Kemenaten in den Burgen ihrer Heimat vorgestellt. Doch anders als in Pskow war es ein eigenes Anwesen innerhalb des Herrschersitzes. Sie seufzte und fragte sich, an welch verwunderliche Sitten sie sich würde gewöhnen müssen. Schnell rief sie sich zur Ordnung, half Alika, mit Lisa herabzusteigen, und nahm der Russin den Prinzen wieder ab.
Dabei deutete sie auf ihre Brust und den Mund des Jungen. »Wo kann ich das Kind versorgen? Es hat Hunger!« Ein paar der Worte konnte sie bereits in der Landessprache sagen. Gelja warf einen prüfenden Blick auf den schlafenden Wladimir, der im Unterschied zu Lisa gar nicht hungrig aussah, und deutete auf den Terem. Die Wachen verloren den gelangweilten Ausdruck auf
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