Das Vermächtnis der Wanderhure
raschen Satz an ihr vorbei zur Tür zu gelangen. Marie packte mit der freien Hand zu, bekam den Stoff eines derben Kleidungsstücks zu fassen und zerrte daran.
»Hier geblieben!« Die Frau schien unbewaffnet zu sein, daher warf Marie sie mit einem Ruck zu Boden, kniete sich auf sie und setzte ihr den Dolch auf die Kehle.
Das kalte Metall ließ die andere entsetzt aufschreien. »Heilige Jungfrau von Wladimir, hilf!«
Marie verstand den Ausruf, denn nach zwei Monaten in Worosansk beherrschte sie die Sprache der Einheimischen besser, als ihre Umgebung es ahnte. Daher nahm sie an, die Frau sei starr vor Angst, und zog den Dolch etwas zurück.
»Wer bist du?«, fragte sie auf Deutsch und wiederholte die Worte noch einmal in einem sehr holprigen Russisch.
Statt einer Antwort drehte diese ihr den Kopf zu und spie ihr ins Gesicht. Marie war so wütend, dass sie am liebsten zugestoßen hätte, doch in dem Augenblick drangen Andrej und der Beichtvater des Fürstenpaars in den Raum. Marie hielt die Frau, die sich im Schein der herbeigebrachten Laternen als Wladimirs ehemalige Kindsmagd Darja entpuppte, am Boden fest und wollte Andrej erklären, was vorgefallen war, doch die Russin kam ihr zuvor.
»Ich wollte den Thronfolger retten! Diese Deutsche war dabei, ihn umzubringen! Dort hinten an der Wand liegt das Gefäß mit dem Gift, das ich ihr der Heiligen Jungfrau zum Dank geradenoch rechtzeitig aus der Hand schlagen konnte. Aus Rache hat sie mich überwältigt und wollte mich töten. Ich danke Gott dem Herrn, dem Sohne und dem Heiligen Geist, der zu Pfingsten über die Jünger des Gottessohnes gekommen ist, dass ihr noch rechtzeitig gekommen seid, um mich zu retten.«
Zwei der Gardisten, die kurz hinter Andrej erschienen waren, richteten ihre Speere auf Marie, doch Andrej befahl ihnen mit einer herrischen Geste, zurückzutreten. »Diese Frau erhebt schwere Anklage gegen dich«, sagte er so langsam und deutlich wie möglich zu Marie.
Diese ließ Darja los, stand auf und schüttelte wild den Kopf.
»Ich kann mir denken, was dieses Miststück behauptet! Es will mir die Schuld an dem in die Schuhe schieben, das sie selbst tun wollte. Ich habe sie mit dem Fläschchen in der Hand an Wladimirs Wiege angetroffen und daran gehindert, ihm den Inhalt einzuflößen.«
Maries mit einigen Brocken Latein durchsetztes Russisch klang holpernd, aber so verständlich, dass nun auch die Wachen unsicher wurden. Für einen Augenblick bedauerte Marie, die Magd nicht sofort getötet zu haben, denn sie hatte ihre wachsenden Sprachkenntnisse bisher verschleiert. Darjas Übergriff aber zwang sie, ihr Wissen aufzudecken. Sie blickte Andrej in die Augen und zeigte auf das Kind, das nun von Alika auf den Arm genommen und gewiegt wurde.
»Ich habe Fürstin Anastasia geschworen, ihren Sohn zu nähren und zu schützen, und dieses Versprechen habe ich gehalten. Ich habe dieses Fläschchen nicht in den Raum gebracht!«
»Doch, das hat sie!« Darja keifte, wirkte aber sichtlich erschrocken. Offensichtlich hatte sie gehofft, den Mord an dem Thronerben einer Fremden, die sich nicht verständlich machen konnte, in die Schuhe schieben zu können. Von Angst geschüttelt kroch sie auf Pantelej zu, fasste dessen Kutte mit beiden Händen und überschüttete den Saum mit Küssen.
»Du glaubst mir doch, ehrwürdiger Vater! Sie war es, die den Prinzen töten wollte, nicht ich.«
Der Pope blickte nachdenklich auf sie hinab und rieb sich den Bart. Mit einem Mal trat er zur Wand und hob das Fläschchen auf. Es war etwa eine Handspanne lang und von einem dunklen, fast schwarz erscheinenden Blau. »Hat jemand von euch dieses Gefäß schon einmal gesehen?«, fragte er die Leute, die sich immer zahlreicher vor der Kammer des Prinzen versammelten.
Die Leibmagd der Fürstin trat vor und streckte die Hand aus, um das Fläschchen zu nehmen, wich dann aber wie vor einem bösen Dämon zurück und schlug das Kreuz. »Das Fläschchen kenne ich. Die Herrin hat Duftöl darin aufbewahrt. Wenn du es aufmachst, müsstest du die Wohlgerüche Griechenlands darin finden.«
Pantelej zog den Korken, roch daran und verzog das Gesicht voller Ekel. »Es mag einmal mit Wohlgerüchen gefüllt gewesen sein, doch jetzt rieche ich nur den scharfen Geruch des Todes.«
Marie trat neben ihn und schnupperte ebenfalls. »Dem Geruch nach besteht der Inhalt aus mehreren Pflanzensäften, das meiste dürfte Gallenkraut sein. Man nennt es auch Herba gratiolae oder Gottesgnadenkraut. In geringer Dosis
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