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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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gequält hatten, weit von sich und verdrängte auch Marie aus seinem Gedächtnis.

FÜNFTER TEIL
     

Verschlungene Pfade

I.
     
    M arie war mit einem Mal hellwach. Ein Geräusch musste sie geweckt haben, vielleicht das Heulen des Windes oder das Knarren eines Bodenbretts. Als sie die Augen öffnete, war es so dunkel, dass sie nicht einmal die Bettpfosten erkennen konnte. Im nächsten Augenblick hörte sie ein leichtes Tapsen vor ihrer Kammer.
    Marie tastete nach dem Dolch, der unter der gesteppten Matte verborgen lag, die ihr als Lager diente. Die Waffe hatte sie vor einiger Zeit einem der Krieger des Fürsten abgenommen, der betrunken im Stall eingeschlafen war. Es handelte sich um kein besonders wertvolles Stück, und sollte man das Ding bei ihr entdeckten, würde sie behaupten, es im Abfall hinter dem Pferdestall gefunden und wieder blank poliert zu haben. Sie benötigte den Dolch nicht als Schutz gegen aufdringliche Männer, denn die konnte sie sich mit einigen scharfen Worten besser vom Leib halten. Als Amme des Thronfolgers stand sie unter dem persönlichen Schutz der Fürstin und war für alle außer dem Fürsten selbst unantastbar, und Dimitri sah ein altes Weib wie sie nicht einmal an. Die Klinge war für sie nicht mehr und nicht weniger als ein Symbol der Freiheit, die sie sich erringen wollte.
    Jetzt aber galt es, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die Frage, wie sie endlich von hier fortkam. Sie umklammerte den Griff der Waffe, schlug mit der freien Hand die Decke aus zusammengenähten Schafsfellen zurück und tastete sich möglichst lautlos zur Tür, um Alika nicht zu wecken, die an der anderen Wand der Kammer schlief. Ihre Freundin hätte gewiss gefragt, was los sei, und damit möglicherweise einen Feind gewarnt.
    An der Tür angekommen, hob Marie den hölzernen Haken an, der diese verschloss. Dabei entstand kein Laut, denn Gelja, die ihr auf Fürstin Anastasias Anweisung hin dienen musste, hatte ihn erst am Vortag mit Fett eingerieben, weil er erbärmlich gequietschthatte. Zuerst war Marie verärgert gewesen, denn das Geräusch hatte sie stets gewarnt, wenn jemand eintreten wollte, jetzt aber dankte sie Gelja im Stillen für diese Entscheidung.
    Auf dem Flur war kein Laut mehr zu vernehmen. Die einzigen Geräusche, die zu Marie drangen, verursachten der Wind und ein Pferd, das mit den Hufen gegen die Boxenwand trat. Daher glaubte sie schon, ein Opfer ihrer überreizten Nerven geworden zu sein. Dann aber hörte sie in der Kammer, in der der kleine Wladimir schlief, Stoff rascheln. Anscheinend befand sich jemand bei dem Kind, und das war verdächtig. Nur sie und Alika durften sich um den Thronfolger kümmern, allen anderen war das Betreten der Schlafkammer des Prinzen ohne ihre oder Fürstin Anastasias ausdrückliche Erlaubnis verboten. Wer heimlich und mitten in der Nacht dort eindrang, hatte nichts Gutes im Sinn.
    Marie glitt weiter und fand die Tür zu Wladimirs Kammer offen. Ein Öllämpchen, das in einer Laterne mit getönten Scheiben auf einem Kasten stand, spendete einen Hauch von Licht, damit sie auch während der Nacht nach dem Kind sehen konnte. Jetzt beleuchtete es den Schattenriss einer Person, die sich über die Wiege beugte und die Hand nach Wladimir ausstreckte. Ein erstickter Laut des Kleinen deutete darauf hin, dass jemand dem Kind den Mund zuhielt. Dann zog der Eindringling mit der anderen Hand etwas aus einer Tasche seiner Kleidung und führte es an den Mund des Kindes.
    »Stoj!« Maries Befehl war noch einige Korridore weiter zu vernehmen. Die Gestalt zuckte erschrocken zusammen und ließ das Kind los, das sofort lauthals zu schreien begann. Gleichzeitig fiel etwas, das wie ein Fläschchen aussah, zu Boden und rollte bis an die Wand.
    Im ersten Impuls wollte der nächtliche Besucher wieder danach greifen, wandte sich dann aber Marie zu und hob drohend die Fäuste. Diese konnte nicht erkennen, mit wem sie es zu tun hatte.Da die meisten Männer im Palast größer waren als sie, musste es sich um eine Frau handeln. Das gab ihr den Mut, auf die andere zuzugehen, ohne direkt zuzustechen. Aber sie hielt den Dolch so, dass sie die Person jederzeit abwehren konnte.
    Aufbrandender Lärm verriet, dass ihr scharfer Ruf und das Schreien des Kindes die Bewohner des Terems geweckt und die Wachen alarmiert hatten, und gleich würden die Mägde der Fürstin und Männer aus Dimitris Leibgarde erscheinen. Dies schien auch Maries Gegenüber zu begreifen, denn die Frau versuchte, mit einem

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