Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
Gefühl erfasst ab und an eine Frau, die mit einem Kind schwanger geht. Man glaubt, weinen zu müssen, obwohl man eigentlich keinen Grund dazu hat.«
    »Du versprichst mir, morgen nicht mehr traurig zu sein?« Annis Blick glich dem eines bettelnden Hundes.
    »Das verspreche ich dir!« Marie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
    Am Stadttor musste Hiltruds Knecht warten, bis ein anderes Gefährt es in Gegenrichtung passiert hatte. Es handelte sich um einen großen Reisewagen, wie ihn Leute von Stand benutzten, die nicht reiten wollten oder konnten. Das Wappen war nicht mehr zu erkennen, denn Wind und Wetter hatten es ausgebleicht. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte das Gesicht einer alten Frau hinter der Öffnung im Schlag auf, dann wurde der Ledervorhang hastig geschlossen. Verblüfft kratzte Marie sich am Kopf, denn sie glaubte, ihre einstige Wirtschafterin Marga in dem Wagen erkannt zu haben. Da aber keine Dame von Stand eine niedere Magd in ihrem Reisewagen mitfahren lassen würde, verwarf sie diesen skurrilen Gedanken.
    Der Besuch bei Hedwig, die auch Ischi zu Besuch hatte, dauerte fast bis zum Abend und endete mit jenem tränenreichen Abschied, den Marie so verabscheute. Ihre Base und ihre einstige Leibmagd taten gerade so, als müssten sie sie auf den Gottesacker bringen, und ließen sich von keiner Versicherung beruhigen, dass der Weg nach Kibitzstein über Rhein und Main völlig ungefährlich war. Für Hedwig, deren längste Reise sie vor vielen Jahren von Konstanz in ihre neue Heimat Rheinsobern geführt hatte, lagen Franken und die Burg Kibitzstein am anderen Ende der Welt, und sie wollte nicht glauben, dass man solch eine lange Reise unbeschadet überstehen konnte.
    »Jetzt beruhige dich doch endlich! In zwei, spätestens drei Jahren bin ich wieder bei euch«, versuchte Marie die beiden weinenden Frauen zu trösten.
    Hedwig und Ischi nickten bekümmert und klammerten sich an sie, als wollten sie sie nie mehr loslassen. Daher war Marie froh, als Ischis Ehemann Ludolf eintrat, ihr etwas scheu die Hand reichte und seine Frau nach Hause führte. Das gab ihr die Gelegenheit, ebenfalls aufzubrechen. Hedwig begleitete ihren Wagen bis an das Stadttor und blieb dann noch immer weinend zurück. Marie winkte ihr zu, solange sie sie sehen konnte, atmete dann aber erleichtert auf und richtete ihre Gedanken auf die Zukunft. In wenigen Wochen war sie wieder bei Michel und Trudi, und keine zwei Monate später würde das neue Leben, das in ihr wuchs, ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit fordern.

IX.
     
    D a Maries Aufenthalt in Rheinsobern länger gedauert hatte als ursprünglich geplant, waren die Schiffer, mit denen sie gereist war, längst weitergefahren und sie musste sich ein anderes Boot suchen. Dieter und Gereon, deren Pflichten sich darauf beschränkt hatten, Marie abwechselnd auf ihren Fahrten in die Stadt zu begleiten, und die sonst untätig auf dem Ziegenhof oder in der Spelunke am Hafen herumgelungert waren, benötigten ein paar Tage, eine Barke zu finden, die Platz für die Reisegruppe bot. Der Eigner war jedoch nicht bereit, eine weitere Nacht im Hafen von Rheinsobern zu verbringen, und so fiel Maries Abschied von Hiltrud und Thomas zwar herzlich, aber sehr kurz aus.
    Das Schiff war hoch beladen und daher eng und unbequem. Da der Kapitän Waren für die verschiedensten Auftraggeber geladen hatte, legte er oft einen ganzen Tag und manchmal noch einen Teil des nächsten an, um Fracht zu entladen und neue aufzunehmen. In Germersheim verlor Marie auf diese Weise sogar zwei Tage. Als sie in Speyer erfuhr, dass sie mindestens dreimal in dieser Stadt würde übernachten müssen, wollte sie sich ein anderesBoot für die Weiterreise suchen. Doch der Schiffer hatte etliche Fässer und Ballen auf ihre Kisten stapeln lassen und weigerte sich, die Teile auszuladen, damit seine Fahrgäste an ihr Gepäck kamen.
    Während Marie in die Herberge zurückkehrte, in der sie Quartier genommen hatte, strich sie in Gedanken das Trinkgeld für den Schiffer bis auf ein paar Heller zusammen, denn wegen dieses unfreundlichen Kerls würde sie ihre Lieben noch später als erhofft in die Arme schließen können. Auch graute ihr vor dem Rest der Reise, da der Herbst sich nun von seiner unangenehmen Seite zeigte. Es nieselte ununterbrochen, so dass die Kleidung auch unter den gewachsten Lederumhängen feucht wurde. Die unter die Lederschuhe gebundenen Holzsohlen versanken im Schlamm oder rutschten auf dem Kopfsteinpflaster, so

Weitere Kostenlose Bücher