Das Vermächtnis der Wanderhure
dass Marie jeder Schritt außerhalb der Herberge zur Qual wurde. Als sie auf dem Weg zum Gasthof ausrutschte und stürzte, bekam sie Angst um ihr Kind und begriff, dass sie die Wartezeit in der Herberge würde verbringen müssen. Nun glich sich ihre Laune mehr und mehr dem trüben Wetter an.
»Wir hätten Michels Vorschlag befolgen und uns ein Schiff für die gesamte Reise mieten sollen. Aber nein, ich musste es ja besser wissen!«, schimpfte sie mit sich selbst.
Anni legte ihr die Hand aufs Knie. »So schlimm ist es doch nicht! Spätestens in drei Tagen fahren wir weiter und werden kurz darauf den Main erreichen. Du hast selbst gesagt, wir müssten den Kahn dort verlassen und uns ein neues Boot suchen.«
»Das ist richtig! Ich hoffe, es dauert nicht noch länger, sonst gebe ich Gereon und Dieter den Befehl, unseren jetzigen Schiffer im kalten Rheinwasser zu taufen.« Marie stellte sich diese Szene in Gedanken vor und musste lachen.
Mit einer weitaus besseren Laune zog sie Anni an sich. »Du bist ein Schatz, weißt du das? Wie durch einen Zauber hast du meine Grillen verscheucht.«
»Dann müssen wir aufpassen, dass sie nicht zurückkommen.« Anni eilte zum nächsten Fenster und tat so, als müsse sie es richtig verschließen.
Marie sah ihr kopfschüttelnd zu und sagte sich, welch ein Glück es für sie war, diesen kleinen Kobold gefunden und zu ihrer Leibmagd gemacht zu haben. Anni ließ sich ihre Laune durch nichts verdrießen, obwohl das Schicksal ihr schrecklich zugesetzt hatte. Mit ihren vierzehn Jahren stand sie an der Schwelle zur Frau und versprach, so hübsch zu werden, dass es ihr an Freiern nicht mangeln würde. Wenn sie zwanzig ist, werde ich auch sie verheiraten müssen, fuhr es Marie durch den Kopf, und als sie sich vorstellte, dass Anni sie dann verlassen würde, fühlte sie sich wieder traurig.
Anni hatte Maries wechselnde Stimmungen in letzter Zeit zu oft erlebt, um sich Sorgen zu machen. Sie kümmerte sich darum, dass ihre Herrin ausreichend zu Abend aß, und half ihr, sich für die Nacht zurechtzumachen. Dann ging sie zur Tür, denn sie wollte die Kammer aufsuchen, die sie mit Mariele teilte. Hiltruds Tochter hatte beim Abendessen behauptet, Kopfschmerzen zu haben, und sich danach sofort zurückgezogen. Anni nahm jedoch an, dass das Mädchen sich wieder einmal geärgert hatte, weil Marie es nicht besser behandelte als sie.
Auf der Schwelle blieb Anni stehen und warf einen prüfenden Blick auf ihre Herrin. »Gute Nacht! Ich wünsche dir angenehme Träume.«
»Ich dir auch, Anni. Gute Nacht!« Marie streckte sich aus schloss die Augen. Während sie auf dem Ziegenhof abends rasch eingeschlafen war, blieb ihr während der Reise der Schlaf meist fern und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Zwar hatte sie sich in Rheinsobern nie wirklich zu Hause gefühlt, aber sie vermisste Hiltrud schon jetzt und bedauerte auch, Ischi und Hedwig so bald nicht wiedersehen zu können. Selbst im Augenblick höchsten Glücks, dachte sie, bleibt immer ein leicht schaler Geschmack im Mund zurück.
Sie musste eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte sie durch ein Geräusch auf. Wahrscheinlich waren neue Gäste angekommen. Zuerst hörte sie jemand laut nach den Knechten rufen, und dann traten mehrere Personen so lärmend in die Wirtsstube, dass es durch das ganze Haus hallte. Marie ärgerte sich über die rüpelhafte Bande und bemerkte gleichzeitig, dass sich ihre Blase meldete. Als sie unter das Bett griff, um den Nachttopf hervorzuziehen, fand sie die Stelle, an der er stehen sollte, leer vor. Anscheinend hatte die Wirtsmagd ihn zwar geholt, aber vergessen, ihn wiederzubringen.
Ärgerlich streifte Marie im Dunkeln ihr Kleid über und verließ das Zimmer. Auf dem Weg nach unten wollte sie die Magd rufen und ihr die Meinung sagen. An der Tür zum Gastraum traf sie auf einen Bewaffneten, der in einer guten Rüstung steckte, aber kein Abzeichen trug, das auf einen Herrn hinwies. Solchen Leuten war nicht zu trauen, und als er Anstalten machte, ihr den Weg zu vertreten, schlüpfte sie rasch an ihm vorbei, ergriff eine der Laternen, die weiter vorne für die Gäste bereithingen, die zum Abtritt wollten, und eilte hinaus. Unterwegs entdeckte sie den Wirtsknecht, der auf dem Hof Wache hielt, und rief ihn an. »Sag der Magd, sie soll einen Nachttopf in meine Kammer bringen! Ich will kein zweites Mal mehr durch die Kälte laufen müssen.«
Sie sah noch, wie der Mann nickte und zur Tür eilte. Dann betrat sie das
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