Das Vermächtnis der Wanderhure
lieber noch ein wenig mit ihrer Base und Ischi unterhalten, anstatt Rechnungsbücher zu kontrollieren, doch ihrer ehemaligen Leibmagd fiel ein, dass ihr Teig noch auf dem Küchentisch lag, und sie bat, sich entfernen zu dürfen. Auch Hedwig fand, dass sie ihre Haushaltspflichten viel zu lange versäumt hatte. Marie verabschiedete sich daher von beiden und wandte sich den Papieren zu, die Wilmar mit sichtlich angespannter Miene vor ihr ausbreitete. Seine Angst vor ihrem Urteil war jedochunbegründet, denn Marie sah auf den ersten Blick, dass er ihr Vermögen umsichtig und treu verwaltet hatte. Sie nahm sich vor, ihn ausreichend dafür zu belohnen und für Hedwig und die Kinder schöne Geschenke zu besorgen.
VII.
D ie Zeit in Rheinsobern verging viel schneller, als es Marie lieb war, und als sie eines Morgens das Fenster der Kammer öffnete, in der sie und Anni schliefen, prangten die Blätter in den ersten Herbstfarben. Auch trug der Wind, der von den Höhen des Schwarzwalds herabstrich, bereits eine Vorahnung von Kälte und Schnee mit sich. Das Ungeborene schien den Herbst ebenfalls zu spüren, denn es drehte sich im Bauch, als fürchte es die Zugluft. Marie schloss das Fenster wieder und strich über ihren sich wölbenden Leib.
Die Geräusche hatten Anni geweckt. »Ist es schon Morgen?« Die Magd kroch tiefer unter ihre Decke, als hoffe sie, die Antwort würde Nein lauten.
Marie sah sie lachend an. »Der Tag hat längst begonnen, du kleine Schlafmütze! Hörst du denn nicht, dass Thomas und die Knechte schon im Stall arbeiten und die Kühe melken? Gleich wird es Frühstück geben, und wenn du bis dahin nicht aufgestanden bist, wirst du bis Mittag hungrig bleiben müssen.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete das Mädchen keck. »Wenn Frau Hiltrud mir nichts gibt, dann bekomme ich etwas von Mechthild.«
Anni hatte sich mit Hiltruds jüngerer Tochter angefreundet und half ihr bei der Arbeit. Mit Mariele aber kam sie nicht so gut zurecht. Das bedauerte Marie, denn sie hatte Hiltruds Älteste auf Burg Kibitzstein zu einer ehrbaren Jungfer erziehen wollen, die später die Gattin eines Kaufmanns oder Handwerksmeisterswerden konnte. Nun überlegte sie, ob es nicht besser wäre, Mechthild mitzunehmen. Hiltruds zweite Tochter war weniger stolz und von sich überzeugt als ihre Schwester und gehorchte ohne Murren oder Widerspruch. Anders als bei der hübschen Mariele bestand bei ihr auch nicht die Gefahr, dass sie in ein paar Jahren den Rittern auf den umliegenden Burgen schöne Augen machen würde. Die Ältere hatte inzwischen herausgefunden, dass ihre Patentante einst die Geliebte des Herzogs von Württemberg gewesen war, und schrieb dieser Tatsache Maries Aufstieg zu. Nun gab sie von sich, dass sie später einmal einen noch höheren Rang einnehmen wolle als ihre Patin. Sie wollte einfach nicht verstehen, dass die Standesschranken so fest waren, als seien sie aus Eisen geschmiedet, und die großen, adelsstolzen Familien keinen Schatten auf ihrem Stammbaum duldeten.
»Ich werde mit Hiltrud reden müssen«, stieß Marie hervor. Ihre Worte waren mehr für sich selbst als für Anni gedacht, aber diese hob sofort den Kopf und sah sie über der halb angezogenen Bluse an.
»Geht es um Mariele?«
Marie nickte seufzend. »Ja! Aber auch um unsere Abreise. Wenn wir zu lange säumen, wird der Winter uns unterwegs einholen oder gar hier festhalten.«
»Wie lange werden wir für die Rückreise brauchen?«, wollte Anni wissen.
Marie kniff die Augen zusammen und rechnete kurz nach. »Eine gute Woche von hier bis zur Mainmündung, und dann noch einmal die drei- bis vierfache Zeit bis Kibitzstein.«
»Also vier bis fünf Wochen. Nun, dann müssen wir wirklich bald aufbrechen. Wahrscheinlich werden wir in die Herbststürme geraten. Ich mache mir Sorgen um dein Kind. Nicht, dass es unterwegs geboren wird!«
Marie gab ihrer Leibmagd einen Nasenstüber. »Es kommt erst im Februar, und bis dahin sitzen wir warm und trocken in meinerKemenate auf Kibitzstein. Hoffentlich wird diese Geburt nicht so schwer wie die erste. Damals habe ich Angst gehabt, sie nicht zu überleben. Wenn Hiltrud nicht gewesen wäre …«
»Diesmal hast du zwar keine Hiltrud bei dir, aber viele andere Freundinnen, die dir beistehen werden, nämlich Eva, Theres, Helene, Zdenka, vielleicht auch noch die Gräfin Sokolna – und natürlich mich«, zählte Anni die Frauen auf, die Marie auf Burg Kibitzstein gefolgt waren. In ihren Worten schwang ein wenig
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