Das Vermächtnis der Wanderhure
als wolle sie den Schatten vertreiben, der sich über die Küche gesenkt hatte, und rang sich ein Lächeln ab. »Warum sollte Michi nicht eine Weile bei euch bleiben dürfen? Der Junge wird sich freuen, euch den Winter über seine Abenteuer in Böhmen erzählen zu können, und dein Mann kann ihn bei der ersten Aussaat des Frühjahrs gewiss brauchen. Irgendwann im frühen Sommer soll er dann nach Kibitzstein reisen und eine seiner Schwestern mitbringen. Ich muss das Mädchen ja nicht sofort mitnehmen.« Dieses Angebot sollte Hiltrud wieder versöhnen.
Die Ziegenbäuerin schnaufte erleichtert und lachte wie befreit auf. »Du bist doch die Beste, Marie! Wo wäre ich heute, wenn ich dich nicht getroffen hätte? Wahrscheinlich zöge ich als eine jener Pfennighuren von Markt zu Markt, die sich für altes Brot oder ein fadenscheiniges Kleidungsstück unter die Freier legen müssen und deren Ersparnisse kaum reichen, um über den Winter zu kommen.«
Sie zog Marie an sich und umarmte sie unter Tränen. Nach kurzer Zeit hatte sie sich gefasst und lachte wieder, obwohl es von ihren Augen noch nass über die Wangen rann. »Natürlich musst du entscheiden, welche meiner Töchter du unter deine Fittiche nehmen willst, und du solltest sie auch gleich mitnehmen. Michi kann im nächsten Frühjahr mit Häschen nachkommen. Oder hast du deine Stute schon vergessen?« Es klang ein wenig empört, denn Hiltrud hatte das Tier, das nicht zur Bauernarbeit taugte, nun schon zwei Jahre lang durchgefüttert.
»Natürlich will ich mein Stütchen wiederhaben. Ich würde sie ja am liebsten gleich mitnehmen, aber ich glaube, es ist wirklich besser, sie bleibt bei euch, bis Michi sie für die Reise nach Kibitzstein satteln kann. Es dürfte ihm gefallen, den Weg hoch zu Ross wie ein Edelmann zurücklegen zu können.« Marie lächelte Hiltrud zu und rang sich ein Zugeständnis ab, mit dem sie Hiltrud froh machen würde. »Ich werde doch Mariele mit mir nehmen. Aber wenn sie nicht spurt, wird sie die Rute zu spüren bekommen.« Das klang schärfer, als Marie es beabsichtigt hatte, und sie bedauerte ihre Worte sofort.
Hiltrud lächelte jedoch zufrieden. »Dagegen habe ich nichts. Beutle sie nur tüchtig, wenn sie zu viele Flausen im Kopf hat. Schließlich ist sie eine Bauerntochter und kein Fräulein vom Stand, auch wenn sie sich einbildet, eines werden zu können. Sie wäre noch weniger, wenn du mir nicht diesen schönen Hof geschenkt hättest. Andere wären nicht so großzügig gewesen wie du und Michel.«
Damit war der Frieden zwischen den beiden Freundinnen wiederhergestellt, und Marie musste noch eine weitere tränenfeuchte Umarmung über sich ergehen lassen. Hiltrud hätte sie wohl noch eine Weile an ihr Herz gedrückt, aber Anni kam herein und sah sich um, in der Hoffnung, noch etwas vom Frühstück abzubekommen. Da Hiltrud so viele Pfannkuchen gebacken hatte, dass selbst eine Riesin davon satt geworden wäre, lud sie dem Mädchen einen nach dem anderen auf den Teller. Während Anni mit vollen Backen kaute und auch nicht mit Honig sparte, schmiedete Hiltrud Pläne für Maries letzte Tage auf dem Ziegenhof.
»Bevor du abreist, werden wir wohl noch ein Schwein schlachten, damit du frische Bratwürste essen kannst.«
»Dagegen habe ich nichts!« Für Bratwürste hatte Marie schon in den Zeiten, in denen sie mit Hiltrud gezogen war, etliche schwer verdiente Münzen geopfert, und sie wusste, dass Hiltrud extra für sie Rezepte ausprobiert hatte, um noch leckerere Würste zu stopfen. So unterhielten sie sich munter und in bester Laune, bis Hiltrud von einer ihrer Mägde an ihre Pflichten erinnert wurde. Als ihre Freundin die Küche verließ, beschloss Marie, in die Stadt zu fahren und ihren Abschiedsbesuch bei Hedwig und Ischi zu machen.
Kurz darauf rollte ein leichter Wagen im gemütlichen Tempo nach Rheinsobern. Als er auf den Weg bog, der zur Stadt führte, griffen Marie und Anni zu der Schaffelldecke, die Hiltrud ihnen fürsorglich mitgegeben hatte, und breiteten sie über die Beine, denn die Luft war kalt; ihr Atem stand als weiße Wölkchen vor ihren Gesichtern.
Marie seufzte. »Es ist wirklich an der Zeit, Abschied zu nehmen. Dabei hasse ich Abschiede mehr als alles andere. Sie haben so etwas Endgültiges an sich.«
Sie klang so traurig, dass Anni versuchte, ihre Herrin zu trösten. Marie wollte jedoch in aller Ruhe ihren Gedanken nachhängen und legte dem kleinen Plagegeist die Hand auf die Schulter. »Esist nichts Schlimmes! So ein
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