Das Vermächtnis der Wanderhure
offensichtlich nur Marie, die junge Afrikanerin und Gelja bereit, ihm zu folgen. Da die beiden Mägde die Kinder festhalten mussten, würden sie sich eher als Hindernis erweisen, denn sie konnten keinenscharfen Trab, geschweige denn einen Galopp durchstehen. Andrej bleckte ärgerlich die Zähne und blickte kurz in die Unterkünfte der Pferdeknechte, um wenigstens dort Männer zu finden, die mit ihnen reiten und den Frauen helfen konnten. Doch die Kerle hatten sich ebenfalls aus dem Staub gemacht.
»Der Teufel soll sie holen!«, fluchte er, als er sein Pferd zum Stalltor führte. Da die Fürstin vor Angst wie erstarrt schien, stieß er Marie an und zeigte auf eine Lücke zwischen zwei Gebäuden. »Dahinter führt eine Pforte in den südlichen Teil der Stadt! Man hört von dort noch keinen Lärm aufklingen. Also können wir hoffen, dass der Feind da noch nicht herumschwärmt. Reitet geradewegs die Straße hinunter zum Südtor. Wenn Gott uns gnädig ist, findet ihr es noch unbesetzt.«
»Und wenn nicht?«, fragte Marie.
»Dann soll Gott uns doppelt gnädig sein. Und jetzt verschwindet endlich! Ich kehre noch einmal in die Halle zurück und hole Dimitri.« Andrej gab dem Pferd, auf dem Marie saß, einen Klaps auf den Hintern und sah es antraben.
Ihre Reitkünste waren mehr als bescheiden, doch die Stute, die man ihr gesattelt hatte, erwies sich als sanft und gehorsam. Das galt wohl auch für die anderen Pferde, denn sie liefen eines nach dem anderen hinter Maries Reittier her, obwohl Alika und Gelja nicht einmal die Zügel festhielten.
Andrej blickte ihnen nach, bis sie von der Dunkelheit und dem dichter werdenden Schneetreiben verschluckt worden waren, und wollte dann in den Palast zurückkehren. Doch er hatte das Portal noch nicht erreicht, als mehrere Krieger vor ihm auftauchten. Es waren keine Tataren auf einem Winterstreifzug, wie er angenommen hatte, sondern einfache russische Soldaten. Kaum hatten die Männer ihn gesehen, drangen sie brüllend auf ihn ein. Andrej wehrte sie beinahe spielerisch, aber mit tödlichen Hieben ab und sah für einen Augenblick auf ihre Leiber hinab, unter denen sich der Schnee dunkel färbte. So einfach, wie diese Kerle esoffensichtlich angenommen hatten, würde es ihnen doch nicht fallen, den Palast zu erobern.
»Verdammt sei Lawrenti! Warum hat er den Tataren Branntwein gegeben? Wären sie nur halbwegs nüchtern, würde ich dieses Geschmeiß mit ihnen zum Teufel jagen!«
In dem Augenblick vernahm Andrej nicht weit von sich ebenfalls Waffengeklirr. Er eilte vorsichtig darauf zu und entdeckte weiter vorne einige Tataren, die sich gegen eine überlegene Schar von Feinden zur Wehr setzten. Sie waren zu betrunken, um richtig kämpfen zu können, und wurden von ihren Gegnern in Stücke gehauen. Geräusche von Schwerthieben in ihrem Quartier verrieten, dass ihre Kameraden, die nicht mehr auf die Beine gekommen waren, drinnen erschlagen wurden.
Andrej begriff, dass er hier nichts mehr tun konnte, und rannte zum Palast zurück. Dabei sah er sich aufmerksam um und entdeckte eine größere Zahl von Feinden, die sich dem Prunkbau näherten, den Fürst Michail einst für sich hatte errichten lassen. Gegen so viele Gegner konnte auch er nichts mehr ausrichten, und so musste er Dimitri verloren geben. Obwohl er sich im letzten halben Jahr beinahe ständig über seinen fürstlichen Freund geärgert hatte, tat ihm der Gedanke weh, ihn hilflos in die Hände der Angreifer fallen zu lassen. Doch es war niemandem damit geholfen, wenn er für Dimitri kämpfte, bis die Übermacht ihn überwältigte und in Stücke riss, wie die Angreifer es mit den Tataren gemacht hatten. Anastasia brauchte ihn lebend, denn allein würde ihr und ihren Mägden, die überdies noch mit Kindern belastet waren, die Flucht nicht gelingen. Wenn sie nicht den Verfolgern in die Hände gerieten, würden sie ein Opfer der Wölfe werden, die zu dieser Zeit in großen Rudeln auftauchten und besonders aggressiv waren. Trotz dieser guten Gründe hasste er sich dafür, dass er floh.
Als er sich auf dem Weg zum Stall noch einmal umsah, traf ihn der Anblick, der sich ihm nun bot, wie ein Schlag. Eine Gruppevon gut gerüsteten Anführern, die von Soldaten mit Fackeln begleitet wurden, hielt auf den Eingang des Palastes zu. Unter ihnen erkannte er neben einigen von Dimitris früheren Beratern seinen Onkel Lawrenti, Anatoli Jossifowitsch und den Methändler Grischa Batorijewitsch, der jetzt allerdings keinen untertänigen Eindruck
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