Das Vermächtnis der Wanderhure
Heirat bewegen zu können. Er hat nämlich weder Weib noch Kind, und ich dachte, er wäre froh, einen Sohn zu haben. Aber du siehst ja, wohin mein Irrtum mich gebracht hat.«
Oda verstummte und schien unerfreulichen Gedanken nachzuhängen.Marie fragte sich, ob die Frau wirklich nur aus Mutterliebe handelte oder ob sie den Jungen loswerden wollte, weil dieser die Tataren an ihr früheres Schicksal erinnerte. Vielleicht konnte sie ohne ihn ganz und gar die Lieblingsgemahlin Terbent Khans spielen. Doch Odas Beweggründe interessierten Marie im Grunde nicht, denn wenn es der früheren Marketenderin gelang, sie nach Konstantinopel weiterreisen zu lassen, würde sie ihr ewig dankbar sein und es an ihrem Sohn gutmachen.
»Ich verspreche – nein, ich schwöre dir, deinen Sohn aufzuziehen, als wäre es mein eigenes Kind. Mein Mann ist nicht ganz arm und sehr gutmütig. Es wird Egon also an nichts mangeln.« Noch während Marie das sagte, dachte sie leicht amüsiert, dass Egons Schicksal wohl anders verlaufen würde, als Oda es sich vorstellte, denn der Junge würde nicht das Ziehkind einer ehemaligen Marketenderin sein, die mit einem Waffenknecht oder gar mit einem Mann aus den unehrlichen Berufen verheiratet war, sondern ein Schützling der Herrin auf Kibitzstein.
XII.
F ür Andrej wurden die schier endlosen Stunden, in denen er und Pantelej in einer kahlen Hütte eingesperrt waren, zur Qual. Während der Priester Trost im Glauben und im Gebet fand, verfolgte Andrej die Vorstellung, Terbent Khan könnte gerade in diesem Augenblick Anastasia zwingen, ihm zu Willen zu sein. Er fluchte, knirschte mit den Zähnen und schlug mit den Fäusten gegen die massiven Wände. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass seine Gefühle nicht die eines treuen Gefolgsmannes waren, der das Leben seiner Herrin um jeden Preis schützen wollte, sondern die eines Mannes mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten. Bis zu diesem Tag war ihm nicht bewusst geworden, was er wirklich für Anastasia empfand. Zwar hatte er Dimitriinsgeheim um seine schöne griechische Frau beneidet und sich ihr in seinen Träumen weiter genähert, als es schicklich gewesen war, aber erst jetzt verstand er, dass ihn mehr mit ihr verband als bloßes Verlangen. Sie jetzt hilflos dem Heiden Terbent ausgeliefert zu wissen war mehr, als er ertragen konnte.
Pantelej hielt Andrejs Verzweiflungsausbrüche nach einer Weile nicht mehr aus und legte tröstend den Arm um ihn. »Beruhige dich doch, mein Sohn! Es hat keinen Sinn, gegen dich selbst zu wüten. Bitte mit mir zusammen Gott und die Heilige Jungfrau von Wladimir, uns aus dieser Not zu retten.«
»Und wenn sie es nicht tun?«, fuhr Andrej auf.
»Dann werden sie unseren Seelen gnädig sein und uns im anderen Leben all das entgelten, was wir hier nun ertragen müssen.« Der beschwörende Klang in der Stimme des Priesters verfehlte seine Wirkung nicht. Andrej beruhigte sich ein wenig und setzte sich auf den Teppich, der ihnen als Schlafplatz diente. »Du bist ein gelehrter Mann, Pantelej Danilowitsch, und kannst mir gewiss sagen, wie es im Himmelreich zugeht. Wie ist es, wenn man die Witwe eines anderen Mannes liebt und mit ihr zusammenlebt? Ich möchte gerne wissen, wie es zugehen wird, wenn sie im Paradies ihren ersten Gemahl wiedersieht. Welchen Mannes Weib wird sie in der Ewigkeit sein?«
Der Priester kniff die Augen zusammen und musterte Andrej durchdringend. »Du liebst unsere Fürstin?«
Zu keiner anderen Zeit hätte Andrej dies zugegeben, doch in diesem Augenblick hatte er keine Hoffnung mehr für sich und Anastasia. »Ich liebe sie mehr als mein Leben.«
»Möge die Heilige Jungfrau geben, dass deine Liebe Erfüllung findet. Doch wie es im Paradies sein wird, kann ich dir nicht sagen. Gott hat mir nicht die Gnade gewährt, über die Pforte dieses Lebens hinauszuschauen. Doch sei versichert, selbst wenn Anastasia nicht bei dir bleiben könnte, würde Gottes Gnade dich diesen Verlust nicht fühlen lassen.« Pantelej segnete Andrej mit demKreuz und wies dann durch das kaum mehr als handgroße Fenster nach draußen.
»Es wird bald dunkel und wir haben kein Licht. Daher sollten wir uns hinlegen und Gott um einen festen Schlaf bitten. Du wirst sehen, morgen früh sieht alles anders aus.« Er sagte diese Worte mehr, um Andrej zu trösten, als in festem Glauben an ein Wunder. Noch einmal kniete er nieder und sprach ein Gebet. Andrej folgte seinem Beispiel, und als er sich an der Seite des Popen auf dem Teppich
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