Das Vermächtnis der Wanderhure
liebte Oda, die Frau aus dem fernen Westen, die so ganz anders war als die Frauen, die er bislang kennen gelernt hatte. Sie war so tatkräftig wie eine Tatarin und vermochte ihm Wonnen zu bereiten, die an die Huris des Paradieses erinnerten. Ihren Sohn aber hatte er nicht in den Stamm aufgenommen. Wäre der Junge mit dem Segen des Mullahs ein Mitglied seiner Sippe geworden, hätte die Gefahr bestanden, dass er sich später gegen seine eigenen Söhne durchsetzen und sie zur Seite schieben würde. Andererseits wollte er ihn nicht töten, obwohl ihm niemand außer Oda dies zum Vorwurf gemacht hätte. Doch mit einer solchen Tat hätte er sich der Frau entfremdet, die er schätzte und die ihm, wie er hoffte, kräftige, stolze Söhne schenken würde.
»Reite mit Allah, Andrej Grigorijewitsch. Möge die Steppe deines Lebens stets voller Wild sein, das du jagen kannst.« Terbent umarmte Andrej und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich hätte doch dem wilden Burschen, der mir damals die Antilope vor der Nase weggeschossen hat, nichts antun können.«
Er kehrte mit einer Miene zu seinem Hochsitz zurück, als habe er schon zu viele Gefühle gezeigt, und nahm ein Stück gerollten Fladenbrots zur Hand.
Andrej verbeugte sich noch einmal und verließ mit Pantelej zusammen die Halle. Draußen sah er die Fürstin mit ihren Begleiterinnen aus dem Frauenhaus des Khans treten, und es war ihm, als löse sich die schwarze Wolke auf, die ihm seit dem Betreten des Lagers den Geist verdüstert hatte. Anastasia wirkte unversehrt und sogar ein wenig erholt. Auf ihrem Gesicht malte sichVerwunderung ab, und ihre Blicke streiften immer wieder Marie, die Arm in Arm mit einer hübschen, leicht fülligen Frau in tatarischer Tracht vor ihr herging und sich angeregt mit dieser unterhielt.
Ob das die vom Khan erwähnte Freundin ist?, fragte sich Andrej. Ihrem selbstbewussten Auftreten und ihrer Gewandung nach musste sie eine von dessen Lieblingsfrauen sein oder sogar die Khanum selbst. Ihr Mantel aus blauem Damast und ihr reicher Goldschmuck, der in der Morgensonne aufglänzte, deuteten darauf hin.
»Dürfen wir wirklich weiterreisen, Andrej Grigorijewitsch?« Die Stimme der Fürstin erinnerte den jungen Russen daran, dass er Oda ungebührlich lange angestarrt hatte. Verwirrt räusperte er sich und nickte Anastasia zu. »So ist es, Herrin. Terbent Khan lässt uns ziehen.«
»Bei Gott, das hätte ich nicht erwartet, denn bei unserer Ankunft wirkte er so zornig, als wolle er uns auf der Stelle umbringen lassen. Gott und die Heilige Jungfrau müssen ein Wunder getan haben.« Da die Fürstin bei diesen Worten Marie mit einem ungläubigen Blick streifte, schien sie zu wissen, wer für dieses Wunder verantwortlich war.
»Wladimirs Amme ist eine Freundin der Khanum«, raunte Andrej ihr zu.
»Das habe ich mir gedacht, denn man hat sie hier behandelt wie eine Fürstin.« Anastasia war anzumerken, dass sie sich über die Zurücksetzung ärgerte, andererseits aber auch froh über Maries Einfluss war, der ihnen die Weiterreise ermöglichte.
Ein Tatar brachte die Stute der Fürstin herbei und enthob Andrej damit der Antwort. Er verneigte sich vor Anastasia, fasste sie an der Taille und hob sie in den Sattel. Diesen Dienst wollte er auch Marie leisten, doch die stand noch immer bei Oda und wurde von dieser fest umschlungen.
Tränen rannen über die Wangen der ehemaligen Marketenderin,und Marie spürte, wie diese gegen ihr Heimweh ankämpfte. Plötzlich bedauerte sie Oda, die trotz ihres Einflusses eine Gefangene der Launen des Khans war. Nie mehr würde sie selbst entscheiden können, wohin ihre Reise ging, und wenn sie den erhofften Sohn nicht gebären sollte, würde sie als eines der verhuschten Weiber enden, die sie heute noch so herrisch herumkommandierte.
»Möge Gott dich segnen und die Heilige Jungfrau ihre Hand schützend über dich halten, Oda!« Marie zog sie enger an sich und küsste sie auf beide Wangen und zuletzt auf den Mund.
Oda ließ nun ihren Tränen freien Lauf. »Grüße mir die Heimat, Marie, und gib auf meinen Sohn Acht.« Mehr konnte sie nicht sagen, da ihr die Stimme versagte.
Marie versuchte zu lächeln. »Ich werde auf Egon aufpassen wie auf meinen Augapfel, meine Liebe. Er wird einmal ein großer Herr sein, das verspreche ich dir.«
Damit brachte sie Oda zum Lachen. »Der Sohn einer Trosshure und ein hoher Herr? Das passt nicht zusammen. Lass nur nicht zu, dass er ein Leibeigener wird, sondern hilf ihm, seinen Weg selbst zu
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