Das Vermächtnis der Wanderhure
so.« Ritter Heinrich deutete die Größe eines etwa halbjährigen Kindes an und lächelte versonnen. Der Pfalzgraf rieb sich mit der Rechten über das Kinn und sah im Geiste vier kampfkräftige Ritter vor sich. Sein Gast hatte sich im böhmischen Krieg bewährt, und es war gewiss kein Schaden, ihn als Lehnsmann zu gewinnen. Mit den Söhnen konnte er sein kriegerisches Gefolge verstärken, während Huldas Töchter für ihn nutzlos waren, denn sie bekamen nicht genug Mitgift, um seine jungen Ritter mit ihnen belohnen zu können.
»Trinkt Euren Wein aus, bevor Ihr geht, Herr Heinrich. Ich lasse Euch und die anderen rufen, sobald die Entscheidung naht.« Ludwig von Wittelsbach nahm selbst einen Schluck und trieb im Geiste seinen Vertrauten Lauenstein an, sich mit seiner Rückreise zu beeilen.
V.
R itter Heinrich war sofort nach seiner Ankunft zum Pfalzgrafen geführt worden. Doch kaum hatte dieser ihn entlassen, drängte es ihn, seine Freunde wiederzusehen und aus deren Mund zu erfahren, was wirklich geschehen war. Ein Diener wiesihm den Weg zu Michels Quartier und meldete ihn an. Auf den Anblick, der sich ihm bei seinem Eintritt bot, war er jedoch nicht vorbereitet. Als Erstes fiel sein Blick auf ein junges Mädchen, dessen Haut so schwarz war wie das Innere eines Backofens und dessen bunte Tracht nicht erkennen ließ, ob es sich um eine besser gestellte Magd oder um ein Bürgerfräulein handelte. Sie saß auf einer Decke am Boden und sah einer Gruppe spielender Kinder zu. Von diesen kannte er nur Trudi, die mit einem gut zweijährigen Jungen Klötzchen aufrichtete. Diese wurden von einem tapsigen Bürschchen umgeworfen, das gerade Laufen gelernt hatte, während ein etwa gleich altes Mädchen ihm dafür auf die Finger klopfte.
Marie und Michel saßen neben den Kindern, während ein Mädchen, das große Ähnlichkeit mit Michi aufwies, einer anderen Dame ein Stickmuster erklärte und ein junger Ritter mit weißblonden Haaren etwas unglücklich auf einen Säugling starrte, der auf seinem Schoß eingeschlafen war. Auf einem Stuhl im Hintergrund saß Anni und nähte ein Stück Pelz auf den Kragen eines Kleides.
Marie bemerkte Ritter Heinrichs Zögern. »Tretet ein, mein Freund!«
Hettenheim hatte sich immer für einen Mann gehalten, den nicht viel erschüttern konnte, aber Maries Anblick trieb ihm die Tränen in die Augen. Er eilte auf sie zu und umarmte sie vor allen Leuten. »Gott sei mein Zeuge! So wie der Tag mit der Nachricht von Eurem Tod der schrecklichste in meinem Leben war, ist dies nun der schönste!«
Marie war verblüfft, so einen starken Gefühlsausbruch hätte sie eher bei Heribert von Seibelstorff erwartet. Um ihrer Verwirrung Herr zu werden, sah sie Gelja über die Schulter des Ritters auffordernd an. »Bring Wein für unseren Gast!«
Hettenheim richtete sich seufzend auf und schenkte Michel einen um Entschuldigung heischenden Blick, weil er sich so hattehinreißen lassen, und erntete ein freundschaftliches Lächeln. Währenddessen trat eine fremdartig wirkende, hübsche Magd mit einem kleinen Tablett auf ihn zu, auf dem sich neben einem Becher voll Wein auch ein Stück Brot und ein Häufchen mit Salz befanden.
Marie bemerkte seine Unsicherheit und deutete auf das Brot.
»Nehmt es, tunkt es in das Salz und esst es. Gelja will Euch damit sagen, dass Ihr uns als Freund und Gast willkommen seid.«
Ritter Heinrich nickte der Magd lächelnd zu und folgte Maries Rat. »Danke! Das ist ein schöner Brauch.«
Dann sah er sich in der Runde um und nickte beeindruckt.
»Wie es aussieht, seid Ihr auf dieser Reise noch weiter herumgekommen als auf jener, die wir gemeinsam begonnen und beendet haben.«
»So kann man es nennen!« Um Maries Lippen spielte ein nachsichtiges Lächeln, das weniger ihrem und Michels Freund galt als den Gelehrten hier in Nürnberg. Die Herren Doctores und Magister waren einerseits brennend neugierig, von ihren Erlebnissen in Russland und Konstantinopel zu erfahren, nahmen sie andererseits aber nicht ernst und maßen ihrem Bericht daher keinen größeren Wert bei. Jede ihrer Aussagen wurde an denen männlicher Reisender gemessen, und daher erntete sie oft nur ein ungläubiges Kopfschütteln.
Sie beschloss, sich von diesem Ärgernis nicht die Freude über das Wiedersehen mit Ritter Heinrich trüben zu lassen, und wies Hannes an, dem Besucher einen Stuhl zu besorgen. »Verzeiht, aber wir sind mit Möbeln eher unterversorgt, unser Gastgeber scheint sonst keine so große Gruppe von
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