Das Vermächtnis der Wanderhure
nicht, ob die Kerle starben, solange sie nur lange genug Widerstand leisteten, bis der Turm zu einem Scheiterhaufen für das Kind geworden war.
Plötzlich fand ihr Blick eine schmale Gestalt, die mit den letzten Angreifern auf die Mauer gestiegen war. Die Rüstung und das Schwert vermochten sie nicht zu täuschen, denn unter dem Helm quoll langes, goldfarbenes Haar hervor und das bartlose Gesicht war zu fein für einen Mann.
»Hör mir zu, du Hure!«, brüllte Hulda zu Marie hinab. »Hier ist dein Sohn! Sieh ihn dir noch einmal an, denn es wird das letzte Mal sein, dass du ihn zu Gesicht bekommst. Gleich holt ihn das Feuer! Sieh doch, wie der Turm brennt. Hier kommt niemand mehr herauf.« Hulda hob das Kind über den Kopf und vollführte einen grotesken Tanz, während die Flammen bereits durch die offene Luke hochschossen und wie lange rote Zungen nach ihr griffen.
Marie stieß einen gellenden Schrei aus und wollte auf den Turm zueilen. Heribert von Seibelstorff bemerkte es und schrie seinen Knappen an, sie aufzuhalten. Der packte rasch zu, doch es war, als müsste er eine Wildkatze bändigen, so wütend versuchte Marie sich freizukämpfen.
Michel, Heribert und die anderen hatten keine Zeit, sich um die Tobende zu kümmern, sie stürmten auf die letzten Verteidiger los, die sich vor dem Eingang des Turmes um Xander geschart hatten.
»Macht den Weg frei, und ihr werdet am Leben bleiben!«, schrie Michel sie an. Ein paar Söldner ließen ihre Waffen fallen. Xanderaber stellte sich breitbeinig vor die Tür und streckte Michel sein Schwert entgegen.
»Solange ich lebe, kommt keiner hier vorbei!«
Als Michel auf ihn losgehen wollte, stieß Andrej ihn beiseite. »Der mir! Ich öffnen Weg dir!« Der junge Russe zog den Schild enger an den Leib und rannte wie ein wütender Bulle gegen Xander an. Bevor dieser sich versah, hatte Andrej ihn vom Eingang des Turmes weggedrängt.
Michel erkannte seine Chance, schleuderte Schwert und Schild beiseite und rannte los. Als er in den Turm eindrang, quoll ihm eine so dichte Rauchwolke entgegen, dass er die Luft anhalten musste. Dunkelheit und Qualm behinderten sein Sehvermögen. Er tastete sich an der Wand entlang, bis er die Treppe fand, und stieg ungeachtet der qualmenden Balken hinauf.
Die Falltür der Plattform stand offen. Sie brannte schon lichterloh und die Flammen schlugen durch die Ritzen zwischen den Bodenbrettern. Roter Rauch stieg zum Himmel empor und hüllte die Frau ein, die das Kind wie ein Bündel Lumpen hin und her schwang und dabei wie eine Wahnsinnige lachte und kreischte.
Mit zwei Schritten stand Michel hinter ihr, entriss ihr den Jungen und versuchte, ihn mit den Armen gegen das Feuer zu schützen.
Hulda schrie gellend auf und zog das Besteckmesser, das sie am Gürtel trug. Doch als sie zustach, zerbrach die Klinge an Michels Rüstung. Mit einem wütenden Krächzen stieß Michel sie zurück, holte noch einmal Luft und kämpfte sich die brennende Treppe nach unten. Hulda sah ihn in der Luke verschwinden und rief ihm alle Verwünschungen nach, die ihr über die Lippen kamen. Zwei, drei Augenblicke später brach das obere Stockwerk ein. Ein Funkenregen ergoss sich auf Michel, und ein glühendes Stück Holz fraß sich wie Säure in seine Wange.
Er stöhnte auf, biss die Lippen zusammen, um ja keine Luft zuholen, und stolperte weiter, von dem festen Willen beseelt, das Kind in Sicherheit zu bringen.
Auf dem Hof trieb Andrej seinen Feind immer weiter zurück. Bis jetzt hatte Xander sich für einen harten Krieger gehalten, der selbst über den Teufel gelacht hätte. Angesichts des zornigen Russen spürte er jedoch, wie die Angst mit kalten Fingern nach ihm griff. Nur der Gedanke, dass Marie und Michel ihn als Huldas engsten Vertrauten gnadenlos zur Rechenschaft ziehen würden, gab ihm die Kraft durchzuhalten. Es gelang ihm sogar, Andrej eine Wunde beizubringen. Doch als er aufjubelte, fuhr Andrejs Schwert auf ihn herab, traf ihn unter dem Helm und schnitt durch die Kettenglieder der Brünne bis tief ins Fleisch. Xander sah das Blut über seine Brust strömen und fühlte die Glieder schwer werden. Mit letzter Kraft blickte er zum Turm hoch, auf dem Hulda noch immer dem Feuer trotzte und ihre Feinde verfluchte. Einen Augenblick war es ihm, als blicke er in die Flammen einer anderen Welt, in denen er für all die Verbrechen brennen musste, die er für seine Herrin begangen hatte. Dann sank er in sich zusammen.
Heinrich von Hettenheim und Heribert von Seibelstorff
Weitere Kostenlose Bücher