Das Vermächtnis der Wanderhure
sie saßen auf dem Trockenen.
Anni schimpfte und verfluchte die beiden unvorsichtigen Kerle, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als Maries Garderobe samt den Truhen bei einem Juden zu versetzen, damit sie die Reise fortsetzen konnten. Da um diese Zeit kaum noch Schiffe denMain hochgetreidelt wurden, sahen sie sich gezwungen, den größten Teil der Strecke bis Kibitzstein zu Fuß zurückzulegen. Annis Wut auf Gereon und Dieter wich bald der Sorge um Mariele, die den Anstrengungen der harten Reise nicht gewachsen war und schon bald zum Erbarmen hustete. Gereon gelang es, einem Wirt einen alten Schafspelz abzuhandeln, in den sie das Mädchen wickeln konnten, und von Zeit zu Zeit fanden sie ein Fuhrwerk, dessen Lenker bereit war, Mariele ein Stück mitzunehmen, während sie selbst nebenherlaufen mussten.
Schließlich gingen ihnen auch die letzten Pfennige aus und sie konnten nicht einmal mehr Brot kaufen. In den nächsten Tagen schliefen sie in den Katen der Sauhirten, die im Winter leer standen, wenn sie nicht von heimatlosem Volk in Beschlag genommen worden waren, das die Neuankömmlinge mit Schimpfworten und Wurfgeschossen vertrieb. Fanden sie eine Unterkunft, so heizten sie deren Feuerstelle mit Kiefernzapfen und ernährten sich von Baumrinden, Schwämmen und den beiden Hasen, die Dieter in einer Schlinge fing. Bald waren sie so geschwächt, dass keiner von ihnen mehr daran glaubte, Kibitzstein lebend wiederzusehen. So erschien es ihnen wie ein Wunder, als sie eines Nachmittags die kantigen Mauern und den wuchtigen Hauptturm der Festung vor sich aufragen sahen. Dennoch kam keine Freude auf, nicht einmal Erleichterung, denn nun stand ihnen jener Augenblick bevor, den sie mehr gefürchtet hatten als den langen, beschwerlichen Weg in die Heimat. Kaum hatte der Türmer ihr Kommen angekündigt, wurde auch schon die kleine Pforte im Haupttor geöffnet und Maries Ehemann stürmte ihnen entgegen.
»Da seid ihr ja endlich!«, rief er, während sein Blick über die kleine Gruppe flog. Seine Augen weiteten sich, als er den abgerissenen Zustand der vier wahrnahm und er seine Frau nicht unter ihnen fand. »Was ist geschehen? Ist Marie krank geworden?«
Anni schluckte mühsam den Frosch hinunter, der es sich in ihrer Kehle bequem gemacht hatte, und senkte den Kopf. »Herr, Frau Marie ist … Wir haben sie verloren!«
»Verloren?«
»So ist es, Herr!«, sprang Gereon Anni bei. »Es war auf der Rückreise. Der Schiffer blieb länger in Speyer, als er uns zugesagt hatte. Frau Marie ist dann wohl noch einmal zum Hafen gegangen, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei muss sie im Nebel fehlgetreten und in den Strom gestürzt sein. Man hat sie nicht wieder gesehen.«
Michels Gesicht wurde kalkweiß, und er reckte die Fäuste gen Himmel. »Oh Herrgott, warum tust du mir das an? Ich habe sie doch eben erst wiedergefunden! Wie kannst du nur so grausam sein?«
Gereon und Dieter standen da wie zwei getaufte Katzen und überboten sich dann mit ebenso phantastischen wie falschen Berichten über Maries Verschwinden, um zu verhindern, dass ihr Herr ihnen Vorwürfe machen könnte, sie hätten seine Gemahlin schlecht beschützt. Anni hingegen versuchte, bei der Wahrheit zu bleiben, konnte sich aber gegen die beiden wortgewaltigen Franken, die auf Kibitzstein geboren worden waren, nicht durchsetzen.
Michel fluchte wüst und umklammerte den Schwertgriff mit der Linken. »Ich werde nach Speyer reiten und dort jeden Stein umdrehen, bis ich weiß, wie mein Weib zu Tode gekommen ist. Hat auch nur einer die Schuld daran, wird er es büßen müssen. Was ist mit dem Schiffer? Kann er Marie getötet und in den Strom geworfen haben, um ihr Geld zu rauben? So elend, wie ihr ausseht, habt ihr auf der Rückreise gewiss darben müssen.«
Es wäre die bequemste Möglichkeit gewesen, den Verlust des Geldes zu erklären, durchfuhr es Gereon. Gleichzeitig seufzte er bedauernd, denn Anni würde sie gewiss nicht decken, sondern dem Herrn die Wahrheit bekennen. »Nein, Herr, das Geld hattedie Herrin wohlweislich in der Herberge zurückgelassen. Auch gibt es Zeugen, die beschwören können, dass sie den Hafen nicht erreicht hat. Da auch sonst niemand etwas bemerkt haben will, ist der Vogt von Speyer zu der Überzeugung gekommen, dass Frau Marie auf dem Weg zum Fluss verunglückt sein muss.«
»Das will ich selbst von ihm hören!« Michel erschien es als heilige Pflicht, die Stelle zu sehen, an der seine Marie von ihm genommen worden war. Er hatte sich
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