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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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bereits große Sorgen um sie gemacht und wäre ihr am liebsten entgegengereist. Doch die vielen Pflichten, die seit der Übernahme des Reichslehens Kibitzstein auf ihm lasteten, und der Gedanke, dass seine Frau bei ihrer Freundin Hiltrud auch über den Winter gut versorgt werden würde, hatten ihn davon abgehalten. Jetzt überhäufte er sich innerlich mit Vorwürfen.
    Mit hängenden Schultern wandte er sich um und kehrte in die Burg zurück. Als er den Hof betrat, eilte Trudi ihm entgegen. Mit ihren hellblonden Haaren und den blauen Augen versprach seine Tochter bereits jetzt, dereinst eine Schönheit wie ihre Mutter zu werden. Michel schossen die Tränen in die Augen, und er fragte sich, wie er es ertragen würde, durch das Kind tagtäglich an die große Liebe seines Lebens erinnert zu werden. Dann aber begriff er, dass Trudi das heiligste Vermächtnis war, welches Marie ihm hinterlassen hatte, und er schwor sich, alles zu tun, das Kind im Sinne seiner Mutter zu erziehen.
    »Mama? Wo ist Mama?« Trudi hatte gehört, dass der Reisezug ihrer Mutter zurückgekommen wäre, und sah sich nach ihr um. Michel kniete nieder und schloss Trudi weinend in die Arme.
    »Du musst jetzt stark sein, Kleines. Deine Mama kommt nicht zu uns zurück. Sie ist oben im Himmel und schaut von da auf dich herab.«
    Trudi machte sich mit erstaunlicher Kraft frei und blickte ihn empört an. »Meine Mama war schon einmal fort. Sie wird auch diesmal wiederkommen.«
    Michel wurde klar, dass Marie ihrer Tochter neben dem Aussehen auch eine gehörige Portion ihres Starrsinns vererbt hatte. Es würde nicht leicht sein, dem Kind zu vermitteln, dass ihre Mutter, die den geldgierigen Freiern ebenso widerstanden hatte wie jene Griechin namens Penelope, von der ihm ein reisender Scholar erzählt hatte, und die den mörderischen Böhmen entkommen war, durch einen simplen Unfall ums Leben gekommen sein sollte. Er konnte es ja selbst nicht begreifen. In dem Augenblick stahl sich eine kalte Hand in die seine. Als er sich umdrehte, entdeckte er Mariele, die mit glänzenden Augen zu ihm aufsah.
    »Ich werde mich um Trudi kümmern, so wie ich es damals getan habe, als Frau Marie mich an den Hof des Pfalzgrafen mitgenommen hat. Ich werde sie gut hüten, das schwöre ich Euch!«
    Michel schenkte ihr einen dankbaren Blick. »Du bist ein braves Ding, Mariele. Das ist gewiss im Sinn meiner Frau.«
    Er hob Trudi auf, schob sie Mariele in die Arme und sah, wie diese das Kind freudestrahlend an sich drückte. Dann schlug das Elend wie eine Woge über ihm zusammen und er kehrte mit hängendem Kopf in den Palas der Burg zurück. Dabei entgingen ihm die Blicke, mit denen Mariele ihn verfolgte. Anni, die die Szene beobachtet hatte, bemerkte sie und war froh, dass Hiltruds Tochter erst in zwei, drei Jahren mannbar werden würde. Der Gesichtsausdruck des Mädchens ließ nämlich wenig Zweifel daran, dass es seine Patentante nicht nur bei Trudis Pflege ersetzen wollte.

IV.
     
    A ls die Wehen einsetzten, hätte Marie sich wahrlich eine andere Hebamme gewünscht als Marga, doch seit sie auf diese Burg gebracht worden war, hatte sie niemand anderen zu Gesicht bekommen als ihre einstige Wirtschafterin. Den Stimmen nach zuurteilen, wechselten sich jeweils zwei Wachen vor der Tür ab, und von Zeit zu Zeit trat eine dritte Person zu ihnen. Dann verfinsterte sich das Loch, das man nachträglich in das Holz geschnitten hatte, und Marga musste die Fackel über sie halten.
    Marie fragte sich, ob die Person, die sie tagtäglich anstarrte und von der sie immer nur ein Auge zu Gesicht bekam, auch diejenige war, die sie hatte verschleppen lassen. Wenn die Schritte wieder verklungen waren, brütete sie stundenlang über der Frage, aus welchem Grund man sie hier gefangen hielt. Aber sie fand keine Antwort, und Marga, die diese mit Sicherheit kannte, schien sich an ihrer Ungewissheit zu weiden. Auch verriet ihre ehemalige Wirtschafterin mit keiner Silbe, warum ihre Entführer sie zuerst in ein feuchtes, kaltes Loch gesperrt und dort an die Wand gefesselt hatten wie ein Tier. Nach wenigen Tagen schienen die Unbekannten anderen Sinnes geworden zu sein, denn Marga hatte ihr Mohnsaft eingeflößt, und als wie wieder wach geworden war, lag sie in einem Turmzimmer, das sogar über einen Kamin verfügte. Auch hier gab es schmale, hohe Löcher in der Wand, die wie Schießscharten wirkten, und hinter ihnen konnte sie verschneite bewaldete Hügel erkennen, die jedes Zeichen menschlicher Ansiedlung

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