Das Vermächtnis der Wanderhure
Balg hier, wenn du unbedingt willst.« Ohne sich noch einmal umzusehen, eilte sie zur Tür und verschwand.
Marie versuchte den Nebel zu durchdringen, der sich wieder über ihren Kopf gesenkt hatte, um sich an das Geschehen der letzten Stunden zu erinnern. Sie hatte einen Sohn geboren, Michels Erben, doch Hulda von Hettenheim hatte ihn ihr weggenommen, dessen war sie sich sicher. Was wollte die Frau von ihrem Kind? Da entsann sie sich einiger kryptischer Aussprüche, die Marga von sich gegeben hatte, an Bemerkungen, die nun einen Sinn ergaben.
Sie musterte das schwächliche, blasse Kind in ihren Armen, öffnete seine Windel und sah, dass es ein Mädchen war. Also hatte Frau Hulda wieder eine Tochter geboren. Doch das erklärtenicht, warum die Frau ihr den Sohn weggenommen hatte. Wollte sie sich an dem Neugeborenen rächen, weil ihr Gemahl während eines Zweikampfs mit Michel tot umgefallen war? Sie traute der Witwe ihres Feindes Falko von Hettenheim jede Schandtat zu.
Das Mädchen strampelte und brüllte nun vor Hunger. Marie starrte es an und fragte sich, warum Frau Hulda die Kleine bei ihr gelassen hatte. Das ergab ebenfalls keinen Sinn. Sie legte das Kind neben sich auf das Bett und griff sich an den Kopf, der sich nun so anfühlte, als würde ihr ein glühender Dolch durch das linke Auge gestoßen. Ihr war übel, und das Schreien des Kindes quälte sie, so dass sie es am liebsten zum Schweigen gebracht hätte. Für einen Augenblick überkam sie der Wunsch, das Mädchen zu packen und durch eine der Schießscharten zu werfen. Dann wäre sie Huldas Balg und dessen Geschrei endlich los.
Doch dann blickte sie in weit aufgerissene, dunkelblaue Augen, die trotz der wenigen Wochen, die das Kleine zählen mochte, eine entsetzliche Angst zeigten. Es schien fast, als wüsste die Kleine, wie verhasst sie der Frau war, die sie geboren hatte. Bevor Marie sich darüber klar wurde, was sie tat, riss sie einen Streifen von ihrem Bettlaken, säuberte das Kind und wickelte es neu. Dann entblößte sie ihre Brust und hielt den kleinen Mund an ihre linke Brustwarze. Das Mädchen schnappte so gierig zu, als habe die Mutter es in den letzten Tagen hungern lassen. Marie sah zu, wie das Kind saugte, und ihr wurde klar, dass sie der Kleinen nichts würde antun können, mochte es auch tausendmal die Tochter Falko von Hettenheims und seiner Frau sein.
»Was für ein rührendes Bild!« Von Marie unbemerkt hatte sich die Tür geöffnet und Frau Hulda trat zusammen mit Marga ein.
Marie hob ganz langsam den Kopf, damit die Schmerzen sichnicht auf ihrem Gesicht abmalten, und blickte ihre Feindin an.
»Wo ist mein Sohn?«
»Dein Sohn? Hast du etwa einen Sohn geboren?« Zunächst wollte Frau Hulda Marie damit verhöhnen, dass sie wohl phantasiert hätte, dann aber dachte sie an die Rache, die sie sich mit dieser Tatsache versüßen konnte, und lachte schallend.
»Es ist ein prächtiger Bursche! Wenn man bedenkt, wer die Eltern sind, wundert es mich eigentlich. Doch du wirst ihn nie wieder zu Gesicht bekommen, denn er gehört jetzt mir. Ich werde vor aller Welt als seine Mutter gelten, und er wird nie erfahren, welch schmutziges Blut in seinen Adern fließt.«
Mit einem Mal begann sie zu fluchen und streckte die Hände aus, als wolle sie Marie erwürgen. »Wenn ich mir vorstelle, dass dein Balg einmal der Erbe von Hettenheim sein wird, würde ich ihn am liebsten an der nächsten Wand zerschmettern.«
Marie stieß einen Entsetzensschrei aus, den Frau Hulda mit spöttischem Gelächter beantwortete. Einen Augenblick weidete sie sich an der Angst ihrer Gefangenen, dann winkte sie verärgert ab. »Ich werde deinem Sohn nichts antun, Hure. Zu viel hängt für mich von seiner Gesundheit ab. Solange er lebt, werde ich Falkos Vetter Heinrich von Hettenheim von dem Besitz fern halten können, der allein mir und meinen Töchtern zusteht. Verstehst du, was ich sagen will? Dein Sohn wird deinen treuen Freund Heinrich um sein Erbe bringen! Wie oft bist du zum Vetter meines Gemahls unter die Decke geschlüpft, du Hure? Vielleicht ist das Kind sogar sein Sohn? Bei Gott, das wäre mir recht, denn dann wäre der Balg wenigstens ein halber Hettenheim und nicht das Produkt der Gosse, aus der du und dein Mann stammen.«
Ein Fluch brach über Huldas Lippen, den ihr Beichtvater gewiss mit etlichen Bußübungen bestraft hätte, dann packte sie Marie bei den Schultern und schüttelte sie wild. »Dein Sohn wird der nächste Herr auf Hettenheim sein, und ich
Weitere Kostenlose Bücher