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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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gewesen war, hatte Marie versucht, sich besser mit Alika zu verständigen, doch die Zeit war zu kurz gewesen, genügend Worte in der jeweils anderen Sprache zu lernen.
    Als das Schiff sich hob und dann wie im freien Fall nach unten sackte, schlug Marie mit dem Kopf so stark an die Wand, dass ihr für einen Augenblick die Sinne schwanden. Danach krümmte sie sich vor Übelkeit und Schmerzen. Zu ihrer Erleichterung überwand sie ihre Beschwerden schnell wieder und es blieb nur eine kleine Beule zurück. Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie über Schiffsreisen wusste, doch ihre Kenntnisse reichten nicht über eine gemütliche Prahmfahrt auf dem Rhein oder dem Bodensee hinaus. Das Meer kannte sie nur aus den abenteuerlichen Erzählungen von Händlern und Spielleuten.
    Um sich abzulenken, begann Marie sich um die übrigen Sklaven in ihrem Gefängnis zu kümmern, das, wie seine Form vermuten ließ, nur einen Teil des Schiffsrumpfes ausmachte. Zwar konnte sie sich lediglich durch Gesten verständlich machen, aber die Kinder waren ihr sichtlich dankbar, wenn sie sie kurz an sich drückte und ihnen mit sanfter Stimme Mut zusprach.
    Sechs Mahlzeiten, vermutlich also drei Tage, später schien das Schiff in einem Hafen anzulegen, denn seine bockenden Bewegungen hörten auf und es schwang nur noch leicht hin und her. Der Aufenthalt dauerte jedoch nicht lange, und noch während sie spürten, dass es wieder Fahrt aufnahm, wurde die Luke geöffnet und die Matrosen trieben ein halbes Dutzend Frauen hinab.
    Marie war froh, auf Schicksalsgefährtinnen zu treffen, denn sie hoffte, sich mit ihnen unterhalten und etwas mehr erfahren zu können. Daher begrüßte sie sie freundlich, erhielt als Antwortaber nur einen abschätzigen Blick und eine Bemerkung, die so klang wie »Goeden Dag«. Die Frauen trugen keine einfachen Kittel, sondern weite, dunkle Röcke, braune Mieder über gleichfarbenen Blusen, wollene Umschlagtücher und eng anliegende Kappen aus hellem Leinen.
    Ihre Anführerin sah sich kurz um und wies auf eine Stelle direkt neben der Luke. Dann scheuchten sie und ihre Gefährtinnen die Kinder, die dort lagen, mit harschen Worten fort und ließen sich nieder. Dabei unterhielten sie sich eifrig in einer Mundart, die in Maries Ohren noch fremder klang als das Holländisch der Matrosen. Dennoch versuchte sie, die Neuankömmlinge noch einmal anzusprechen, wurde aber mit unfreundlichen Handbewegungen vertrieben. Verärgert wandte sie sich ab und tröstete die verstörten Kinder, denen das Auftreten der Frauen Angst eingeflößt hatte.
    Da die sechs viel Platz für sich in Anspruch nahmen, mussten die Kinder im Sitzen oder zusammengerollt wie Tierchen schlafen. Marie legte Lisa auf sich, so dass Alika sich eng an sie drängen und eines der kleineren Mädchen auf ihren Schoß nehmen konnte. Ungeachtet ihrer Hautfarbe und ihrer Herkunft fühlten die beiden, dass sie einander näher standen als den großen, breit gebauten Frauen mit ihren kalten Augen.
    Am Abend zeigte es sich, dass die sechs ihren Platz schlecht gewählt hatten, denn als die Luke das nächste Mal geöffnet wurde, forderte einer der Matrosen sie barsch auf, den Latrineneimer hochzureichen. Auch mussten sie nun anstelle von Marie und Alika das Essen verteilen. Die Frauen schimpften und schienen sich zu weigern, doch ein Guss kalten Meerwassers, den einer der Matrosen über sie schüttete, brachte sie rasch zum Verstummen. Während sie mürrisch ihre Arbeit verrichteten, lächelte Marie schadenfroh in sich hinein und wunderte sich ein wenig, dass die recht gut gekleideten Frauen von den Matrosen noch verächtlicher behandelt wurden als sie und die Mohrin. Sie spitzte dieOhren, und da sie allmählich lernte, die Worte besser auseinander zu halten, glaubte sie zu verstehen, dass der Schiffer die Frauen aus dem Schuldturm freigekauft hatte, um sie in fernen Häfen als Huren an Bordellwirte zu verkaufen.
    Marie erschrak nicht wenig, denn sie begriff nun, dass sie wohl ebenfalls als Hure in einer Hafentaverne enden würde. Für eine Weile war sie völlig niedergeschlagen und wünschte sich zu sterben. Schon schmiedete sie Pläne, wie sie ihrem Leben ein Ende setzen konnte, aber Lisas Weinen erinnerte sie daran, dass sie noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Wichtiger als ihr eigenes Wohlergehen war es, ihren Sohn zu finden und zu Michel zu bringen. Also musste sie um jeden Preis und mit jedem Mittel überleben und nach Hause zurückkehren. Unwillkürlich dachte sie an

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