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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Trudi, die sie wohl sehr vermissen würde, und kämpfte mit den Tränen, denn sie fürchtete, ihre Tochter nie mehr in die Arme schließen zu dürfen.
    Schon bald darauf lernte Marie die rauen Seiten der See kennen, mit denen die Frauen von der Küste vertraut zu sein schienen. Nun war sie froh um die Anwesenheit der sechs Weiber, deren Gesten so ordinär waren wie die von Pfennighuren, als hätten sie das ihnen bestimmte Gewerbe bereits ausgeübt. Solange die sechs das mitunter heftige Rollen und Stampfen des Schiffes gleichmütig ertrugen, bestand wohl kaum die Gefahr, dass die Kogge vom Meer verschlungen wurde. Daher fand Marie zu einer gewissen Gelassenheit zurück, und es gelang ihr, auch die Kinder ein wenig zu beruhigen. Sie bemühte sich, einigen ihre Sprache beizubringen, merkte aber rasch, dass nur Alika an einer besseren Verständigung mit ihr interessiert war.
    Die jüngeren Sklaven wirkten auf eine seltsame Weise gelähmt, als hätten sie das Denken verlernt. Das musste eine Folge der Gefangenschaft in dem düsteren Kasten sein, in den kein Tageslicht fiel und der auch ihr wie der Vorraum zur Hölle erschien. Sie erwachte häufig aus einem von Albträumen erfüllten Schlaf undvermochte eine Weile keinen klaren Gedanken zu fassen. Auch die sechs Frauen, die zu Beginn noch laut und ohne Rücksicht auf andere miteinander geredet hatten, wurden mit zunehmender Dauer der Fahrt stiller.
    Marie hatte immer noch nicht herausgefunden, wohin die Reise führen sollte, denn die Namen, die die sechs immer wieder nannten und die zu Orten gehören mussten, sagten ihr nichts. Reval oder Riga konnten genauso gut an den Küsten Spaniens liegen wie am Nordmeer. Als sie wieder einmal versuchte, etwas zu erfragen, ließ eine der Frauen, die Brocken ihrer Sprache beherrschte, sich herab, ihr zu antworten. Demnach handelte es sich um große Städte, die an der Ostsee lagen. Aber die Verständigung reichte nicht aus, Marie begreiflich zu machen, wie viele Tagesreisen diese Orte von Nürnberg oder einer der anderen großen Städte des Reiches entfernt waren und in welche Himmelsrichtung man von den Ufern der Ostsee aus wandern musste, um dorthin zu gelangen.
    Die Fahrt schien länger zu dauern, als die sechs Frauen angenommen hatten, denn sie wirkten von Tag zu Tag besorgter und ängstigten sich schließlich sogar. Dabei blieben das Verteilen der Näpfe und das Ausleeren des Kübels, was immer gleichzeitig geschah, der einzige Anhaltspunkt, dass wieder ein Morgen oder ein Abend gekommen war. Der Geruch, der sich während dieser Augenblicke in ihrem Gefängnis ausbreitete, verdarb Marie jedes Mal den Appetit, doch sie zwang sich, ihre Schale zu leeren, weil sie stark bleiben musste für die Flucht und für das Kind, das sie säugte. Während sie sich bemühte, die Nahrung bei sich zu behalten, stellte sie sich vor, wie sie demjenigen, der für den Fraß verantwortlich war, sämtliche Heringe an Bord in den Rachen stopfte.
    Das Schiff legte noch in vielen Häfen an, blieb aber nie länger als sechs Mahlzeiten vor Anker. Die Geräusche, die von oben herabdrangen, verrieten Marie, dass Waren aus- und eingeladen wurden.Einmal vernahm sie barsche Stimmen und das Klirren von Ketten, als würden Sträflinge vom Schiff geschafft.
    Die sechs Frauen wurden jedes Mal ganz nervös und schienen bei jedem Aufenthalt zu beten, dass auch sie endlich von Bord gelassen würden, und je weiter die Fahrt ging, umso wilder wurden ihre Vermutungen und Tränenausbrüche. Gesprächsfetzen konnte Marie entnehmen, dass sie sich davor fürchteten, zu den schrecklichen Moskowitern oder gar zu den grausamen Tataren verschleppt zu werden.
    Diese Begriffe sagten Marie wieder etwas, und sie bedauerte, die Sprache ihrer sechs Leidensgefährtinnen nicht gut genug zu verstehen, um mehr in Erfahrung bringen zu können. Ihres Wissens war Moskau ein kleines Ländchen am Rande der bewohnten Welt, hinter dem nur noch jene Wesen lebten, die Tataren genannt wurden. Diese sollten keine richtigen Menschen mehr sein, sondern halbe Dämonen, die Menschenblut zum Frühstück tranken. Marie wurde es mulmig zumute, denn sie bezweifelte mehr und mehr, dass es ihr gelingen konnte, aus solch fernem Land den Weg in die Heimat zu finden.

IV.
     
    W ie lange Marie in dem düsteren Verschlag gehaust hatte, der vom Geruch der Ausscheidungen und der ungewaschenen Leiber erfüllt war und in dem nur deswegen eine Laterne brannte, damit man den Latrinenkübel nicht wie ein Hund wittern

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