Das Vermächtnis der Wanderhure
Alika entdeckt hatte, weitaus mehr. Eben wurden nämlich ihre Schicksalsgefährten über einen Steg an Land gebracht und zu einer hölzernen Plattform getrieben, um die sich schon eine Menge Volk versammelt hatte. Ein Mann, der auf einer Art Kanzel stand, hielt einen hölzernen Hammer in der Hand und schlug mehrmals kräftig auf ein Brett. Danach rief er etwas, das bis in die Kammer drang. Marie konnte sogar verstehen, was er den Leuten zurief, denn er benutzte die deutsche Sprache, und sie begriff, dass der Mann ein Auktionator war. Er würde die Frauen und Kinder und auch die mit Ketten gefesselten Männer, die im Bauch der Geit transportiert worden waren, wie Fleisch oder Korn an die Umstehenden verschachern.
Sie schüttelte sich, als ihr klar wurde, dass Alika, Lisa und ihr das gleiche Schicksal bevorstand, und in Gedanken bedachte sie Frau Hulda, die ihr eigen Fleisch und Blut in dieses Elend gestoßen hatte, mit den bösartigsten Flüchen, die sie kannte.
Während Marie das Geschehen starr vor Entsetzen verfolgte, beobachtete Kapitän Zoetewijn zufrieden die Versteigerung. Wie er es erhofft hatte, war er der erste Händler, der Sklaven in Riga feilbot, und konnte daher auf gute Preise hoffen. Nachdem dasLand in den letzten Jahrzehnten von mehreren Pestepidemien heimgesucht worden war, gab es eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, und für die männlichen Sklaven, die keine Heiden, sondern zum Schulddienst verurteilte Christen waren, wurden hohe Preise bezahlt. Vor allem wohlhabende Handwerker und Handelsleute zeigten Interesse an den Männern, die beim Schiffbau und als Hilfsarbeiter bei der Errichtung von Festungen, Kirchen und Wohnhäusern eingesetzt werden konnten und das dazu notwendige Holz in den Wäldern fällen sollten. Da diesen Menschen nach einem Jahrzehnt oder spätestens anderthalb die Freiheit winkte, falls sie sich gut verhielten, würde kaum einer von ihnen fliehen, insbesondere, da man ihnen erzählt hatte, sie könnten, wenn sie sich geschickt anstellten, dereinst als Bürger der Stadt selbst zu Wohlstand kommen.
Zoetewijn wusste, dass es nur den wenigsten gelang, mehr als das tägliche Brot zu verdienen, doch seine Leute hatten den Männern oft genug gesagt, welche Chancen sich ihnen hier im Osten boten, um sie während der Fahrt und bei der Versteigerung ruhig zu halten. Renitente Sklaven brachten nämlich keinen guten Preis. Bei den sechs Schuldnerinnen brauchte er sich diese Sorgen nicht zu machen. Die Weiber taten alles, um das Wohlgefallen der zahlreichen männlichen Schaulustigen zu erringen. Die eine oder andere mochte hoffen, von einem Witwer erworben zu werden, dessen Haus und Kinder sie versorgen sollte und der sie vielleicht sogar heiraten würde. Wahrscheinlicher aber war, dass die Hurenwirte der Stadt sie kaufen würden. Diese besaßen gut gefüllte Börsen und versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen, denn der Hafen florierte, und die Bordelle brauchten Nachschub, um die fremden Händler und die Seeleute bedienen zu können.
Es lief so gut, wie Zoetewijn erwartet hatte. Die Hurenwirte kämpften beinahe um die Weiber, und er konnte eine Summe einstreichen, die seine Ausgaben für die sechs bei weitem übertraf.
Auch die übrigen Verkäufe verliefen zufriedenstellend. ÄltlicheEhefrauen von Handwerkern und Handeltreibenden, die geschickte Hände in ihren Häusern brauchen konnten, kauften gerne Heidenkinder, denn sie konnten sich des Segens der Kirche gewiss sein. Die kleinen Mauren würden notfalls mit der Rute zu gläubigen Christenmenschen erzogen werden.
Zoetewijn interessierte sich nicht für die Motive der Käufer, sondern addierte im Geist zufrieden die Summen, die er erlöste. Irgendwann erlahmte jedoch der Kaufwille der Einheimischen, und die Sklaven, die keinen Käufer mehr gefunden hatten, wurden wieder an Bord gebracht. Mit ihnen kam ein Schreiber des Hafenrichters, um nachzusehen, ob an Bord der Geit menschliche oder andere Ware zurückgehalten worden waren. Wie in vielen großen Städten galt in Riga der Stapelzwang, und dieses Gesetz verlangte von jedem Kaufmann, der sich in dem Ort aufhielt, all seine Waren zum Kauf anzubieten, und das galt nicht nur für Bier, Tuche und andere leblose Dinge, die Zoetewijn ebenfalls an Bord hatte, sondern auch für das zweibeinige Vieh, wie der Schreiber die Sklaven verächtlich nannte.
Der Kapitän war noch so in seine Gedanken versunken, dass er beinahe übersah, wie der Gerichtsschreiber an Bord stieg. Schnell
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