Das Vermächtnis der Wanderhure
verlangten Summe abzuziehen. Er interessierte sich auch kaum noch für das, was er erworben hatte, sondern wies Zoetewijn herrisch an, das Gesindel schnellstens zu seinem Haus schaffen zu lassen. Der Blick, mit dem er Alika bei diesen Worten bedachte, verriet, um was sich seine Gedanken drehten.
VI.
A ls Marie kurz darauf das Deck der Kogge betrat, musste sie die Augen bedecken, denn nach den Wochen in dem dunklen Sklavenverschlag brannte das Sonnenlicht ihr schier die Augen aus dem Kopf. Es war warm, mittlerweile war es Frühling geworden.
Ein rüder Stoß trieb sie weiter. »Mach, dass du ins Boot kommst, Kanaille!«
Der Matrose, der sie geschlagen hatte, hob erneut die Faust. Marie stolperte vorwärts, fand sich plötzlich an der Reling des Schiffes wieder und konnte Lisa und sich gerade noch festhalten. Unter ihr schaukelte ein Boot, in dem schon ein paar ihrer Leidensgefährten saßen, und einige andere kletterten gerade über eine primitive Strickleiter hinunter. Mit dem Kind auf dem Arm vermochte sie sich nicht an den Seilschlaufen entlangzuhangeln, und für einen Augenblick bekam sie es mit der Angst zu tun, man würde ihr Lisa abnehmen und als unnützen Ballast ins Wasser werfen.
Da schnauzte ein weiterer Matrose sie an, drehte sie zu sich herum und zog ihr einen Strick unter den Armen hindurch. Er schlang ihr das Seil zweimal um ihren Körper, verknotete es und ließ sie wie einen Sack in die Tiefe hinab. Unten band ein dritter Matrose sie los, stieß sie Richtung Bug und zwang sie, sich auf den Boden zu setzen. Alika drängte sich zu ihr durch und klammerte sich an ihr fest. Marie spürte, wie ihre Freundin zitterte, und bemerkte, dass diese immer wieder ängstlich zu dem Kaufherrn hinüberschaute. Der musterte die junge Mohrin mit einem Blick, als wäre sie ein besonders saftiges Brathähnchen.
Nun wurden die letzten Sklaven von Bord der Kogge gebracht, und als sie im Boot hockten, löste ein Matrose die Leinen und stieß ab. Während er die Steuerpinne ergriff, legten sich vier andere Seeleute in die Ruder und zogen sie kraftvoll durchs Wasser. Nun nahm Marie die Geit zum ersten Mal bewusst von außen wahr, und sie ahnte, dass sie den hoch aufragenden, dunklen Rumpf in ihren Albträumen wiedersehen würde. Sie zog die vor sich hin weinende Lisa an sich, biss die Zähne zusammen und zwang ihre Gedanken, sich mit der Zukunft zu beschäftigen.
Diese sah jedoch ebenso düster aus wie das schwimmende Gefängnis hinter ihr. Dennoch schöpfte sie Hoffnung. Mit jedemRuderzug der Matrosen näherte sich das Boot festem Boden, und dort würde sich vielleicht eine Chance ergeben, auf ihren eigenen Füßen Richtung Heimat zu gehen. Es mochte eine Weile dauern, bis sie wusste, wo sie sich befand und wie sie von hier aus den Weg nach Franken finden konnte, doch sie würde es schaffen, und wenn sie dafür stehlen, betteln und huren musste.
Dieser Gedanke löste sehr zwiespältige Gefühle in ihr aus, aber darauf durfte sie keine Rücksicht nehmen. Ganz gleich, was kam, sie musste die Augen offen halten. Damit begann sie auch sofort, indem sie ihren Blick auf den Bug des Bootes richtete und die Stadt betrachtete, der sie sich näherten.
Narwa war weitaus kleiner als Riga oder Reval, aber der erste Ort, von dem Marie mehr sehen konnte als das, was sie durch die Luftlöcher in der geheimen Kammer hatte erkennen können. Die Stadt lag nicht direkt am Meer, sondern an den Ufern eines Stroms in einem schier endlosen Sumpf, der sich von Horizont zu Horizont zu spannen schien. Die Mauer, die den Ort umgab, hatte man mit Steinen, die von weit her gekommen sein mussten, auf einem mit Pfählen verstärkten Wall errichtet, und wie in Holland führte auch hier ein Kanal in die Stadt. Die Matrosen ruderten auf die Stadt zu, und als das Boot die Wachtürme rechts und links passiert hatte, konnte Marie erkennen, dass die Häuser auf kleinen, künstlich aufgeschütteten Hügeln standen. Die Aufschüttung alleine reichte nicht aus, das sah sie ein wenig später, als der Kahn an Arbeitern vorbeifuhr, die lange Pfähle in die Erde rammten, die wohl einem neuen Bauwerk auf dem sumpfigen Boden Halt geben sollten.
Marie sah Häuser, die zur Gänze aus Stein bestanden und deren Dächer mit dunklen Schieferplatten gedeckt waren. Andere Gebäude hatten nur ein steinernes Untergeschoss und ein aus wuchtigen Holzbalken gefertigtes Obergeschoss, welches ebenfalls ein Schieferdach trug. Beide Bauweisen wirkten weitaus gediegener als
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