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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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oder untergehen wolle.
    Irgendwann meldete sich ihr knurrender Magen, doch niemand kam, um die Gefangenen mit Essen und Wasser zu versorgen. Daher bettete sie den Kopf auf eine dickere Schicht Schilf, legte die Hände um Lisa und Alika, die sich in den Schlaf geweint hatte, und schlief ebenfalls ein. Nach einer viel zu kurzen Nacht wurden sie von lauten Stimmen und dem Öffnen der Tür geweckt. Zwei Knechte begannen, den Sklaven Brot aus einem Korb zuzuwerfen, als wären es wilde Tiere. Es war zu wenig, um alle satt werden zu lassen, und so rauften die meisten Sklaven sich unter dem Gelächter der Knechte darum und schlugen sogar aufeinander ein. Marie gelang es, ein größeres Stück aufzufangen,und sie brach es, um es mit Alika zu teilen. Während sie schweigend kauten, blickten sie sich fragend an, denn beide fürchteten sich vor dem, was auf sie zukommen mochte. Marie dachte an die schmierigen Hütten am Hafen, die sicherlich als Bordelle dienten, und der Mohrin stand die Angst im Gesicht, wieder zu ihrem derzeitigen Besitzer gebracht zu werden.
    Der Kaufmann aber hatte seine Gier gestillt und dachte nun ans Geschäft. Kaum hatten die Sklaven das Brot verschlungen, wurden sie ins Freie getrieben. Draußen stand ein Fass, aus dem sie mit den Händen Wasser schöpfen durften, um ihren Durst zu löschen. Dann scheuchte man sie auf einen großen, einmastigen Flusssegler, der vor der Frontseite des Hauses vertäut lag und bereits hoch mit Fässern und Warenballen beladen war. Marie hatte Lisa mit einem Streifen Tuch an sich gebunden, um beide Hände frei zu haben, und kletterte nun zielstrebig mit Alika auf einen großen Ballen, der den höchsten Punkt der Ladung bildete und den ihnen niemand von ihren Leidensgefährten streitig zu machen versuchte. Der Rest der Sklaven wurde von den Knechten über die Bündel und Kisten verteilt, und als der Kaufmann an Bord kam, nahmen seine Männer lange Stangen zur Hand und stießen das Boot vom Kai ab. Einige stakten es durch den Kanal, während andere dafür sorgten, dass der Rumpf nicht gegen die ins Wasser ragenden Stege und Uferbefestigungen stieß. Als sie das Ende des Kanals erreichten, legten die Hälfte der Knechte ihre Stangen ab, setzten ein Segel und drehten es, als das Boot auf den träge dahinziehenden Strom hinausglitt, in den Wind. Langsam schwang der Bug nach Süden und das Schiff nahm Fahrt auf.
    Marie zupfte Alika am Ärmel. »Es geht landeinwärts, fort vom Meer!«
    Die Mohrin nickte, denn Marie machte ihre Worte mit Gesten verständlich. Trotz aller Mühen, die sie sich beide gegeben hatten, war noch keine flüssige Unterhaltung möglich. Das mochtedaran liegen, dass es im Sklavenverschlag der Geit kaum etwas gegeben hatte, auf das sie hätten zeigen können. Nun aber gab es viel zu sehen, und Marie nannte die Dinge in ihrer Umgebung mit Namen.
    Während der Fahrt auf dem Fluss erwies Alika sich als gelehrige Schülerin, auch wenn ihre Aussprache manchmal so verdreht klang, dass Marie nicht wusste, ob sie hell auflachen oder den Kopf schütteln sollte. Im Gegenzug eignete sie sich ein paar Worte aus Alikas Muttersprache an, weniger in der Absicht, sie zu benutzen, als vielmehr, um sich von dem Elend und der Verzweiflung abzulenken, die im Hintergrund ihres Bewusstseins lauerten.
    Als der schwerfällige Segler in den Peipussee einbog, sahen Marie und Alika sich beklommen an, denn sie glaubten zunächst, sie führen doch wieder aufs Meer zu neuen, noch wüsteren Gestaden. Die Wasserfläche vor ihnen schien sich endlos auszudehnen. Marie fasste sich als Erste, da ihr bewusst wurde, dass das Frachtschiff einem Wellengang, wie sie ihn im Bauch der Geit erlebt hatten, nicht würde standhalten können. Das Gewässer glich eher dem Bodensee, an dessen Ufern Marie aufgewachsen war. Bislang hatte sie geglaubt, dieser sei der größte See der Welt. Verglichen mit diesem endlos scheinenden Gewässer war er jedoch kaum mehr als eine Pfütze. Da aber schon der Bodensee bei Sturm hohe Wellen schlug, fragte Marie sich ängstlich, wie es bei einem Unwetter hier aussehen mochte. Sie betete still zur Himmelsjungfrau und zum ersten Mal seit langem auch wieder zu Maria Magdalena, ihrer besonderen Heiligen, sie diesen See unbeschadet passieren zu lassen.
    Ihr Schicksal und ihre Gebete schienen die himmlischen Kräfte zu rühren, denn die Wasseroberfläche kräuselte sich nur leicht, und es gab gerade so viel Wind, dass der schwer beladene Frachtsegler gemächlich nach Süden

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