Das Vermaechtnis des Caravaggio
interpretierenden
Gemälde ein einziges Wunder zugelassen hatte. Ein einziges. Glaubte er daran, dass
Wunder geschahen? Oder bildeten alle diese Handlungen etwas Wundersames, und
der Mensch hatte nur den Blick dafür verloren, im Alltäglichen das Göttliche zu
begreifen? War es das, was Michele trieb, wie ein Besessener seine Bilder auf
die Leinwand zu bannen, bevor sie seinem Kopf entschwanden? Dieses Gefühl
beschlich sie, wenn Michele in einem Sinnenrausch, in einer Betäubung oder wie
sie es sonst nennen wollte, seine Bilder schuf. Sie drängten sich ihm auf, sie
nahmen Besitz von ihm wie böse Geister, die er allerdings durch Pinsel und
Leinwand zu beherrschen lernte. Er exorzierte sie regelrecht, was für Nerina
die wütenden und explosiven Ausbrüche erklärte, die seine Arbeit begleiteten.
Müde setzte sie sich in eine Ecke
des Raumes, beinahe direkt hinter Michele, die Beine angezogen und mit den
Armen umfasst, und beobachtete ihn, wie er zuerst ruhig von einem Bild zum
anderen ging, hier einen Strich setzte, dort den Pinsel wechselte und eine
kleine Fläche grundierte, wieder zurückkehrte, einen zweiten Strich setzte und
plötzlich, als wäre er rasend geworden, Pigmente mit Öl und Eiweiß mischte, in
die breiige Masse wischte, um sie zu verflüssigen, und schließlich mit
angespanntem Oberkörper über eine Stelle gebeugt beinahe mit drei, vier Pinseln
gleichzeitig einen Körper modellierte.
„Ihr seid also fertig!“
Plötzlich vernahm sie wie aus
nächster Nähe diese Stimme und fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Ihr Kopf lag auf den Knien, die Beine schienen ihr nicht mehr zu gehören. Wie
taub fühlten sie sich an. Sie war wohl in ihrer Ecke eingeschlafen. Von der Tür
her näherte sich ein Mann, den sie sofort erkannte, der Johanniter.
Michele arbeitete ruhig weiter,
ließ sich auch von dem Eindringling nicht stören.
„Wann darf man das Bild
entgegennehmen? Der Ordensvorsteher wartet, Caravaggio!“
Sie bedurfte einer ungeheuren
Anstrengung, um sich aus dem Sitz zu erheben und auf die Beine zu stellen. Ein
Gefühl, als bohrten sich Tausend Nadeln in ihre Beine, führte zu einem
unsicheren Stand. An Gehen war nicht zu denken.
„Verschwindet, Johanniter!“, zischte
Nerina. Der Johanniter fuhr herum und starrte in die dunkle Ecke. Offenbar
hatte er sie nicht bemerkt.
„Oh, Eure Haushälterin. Oder ist
sie vielmehr Eure Gespielin, Caravaggio?“
Michele rührte sich nicht, pinselte
in rascher Folge an zwei Bildern, als gäbe es den Johanniter nicht.
„Fühlt Ihr nicht, dass Ihr stört?“,
fauchte Nerina diesmal eindeutig.
Noch immer konnte sie sich nicht
bewegen, da der Schmerz unerträglich wurde, wenn sie ein Bein vom Boden hob.
„Ihr seid fleißig, Michele. Aber
für welchen Auftraggeber ist das ‚Haupt des Johannes‘?“
Aus der Art, wie der Stimmton des
Johanniters absank, vermutete Nerina, dass er sich selbst auf dem Bild
wiedererkannt hatte. Was führte den Johanniter hierher? Hatte ihn der Prete
Rosso geschickt, damit er sich selbst vergewissere, dass er auf dem Haupt des
Johannes porträtiert wurde?
„Interessiert es Euch?“, mischte
sich Michele ein, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. „Es wird Furore machen,
dieses Bild, wenn es in Rom öffentlich ausgestellt werden wird. Jeder wird
fragen, wer sind die Menschen, die den Kopf Michelangelo Merisis da Caravaggio
der Salome auf silberner Platte servieren? Und ich werde die Antwort dafür
liefern, ich werde hinausposaunen, wer mich zu einem solchen Bild zwingt.“
Nur das Streichen und Schaben der
Pinsel fiel in die Stille. Die wenigen Kerzen, die Michele für seine Malerei
benötigte, flackerten im Raum.
Nerina konnte sich wieder bewegen.
Die Schmerzen in den Beinen ließen nach, und das Gefühl, wieder einen
funktionierenden Körper zu haben, kehrte zurück. Sie griff hinter sich. Dort
stand Micheles Degen, an die Wand gelehnt und immer bereit. Als sie das kalte
Metall des Griffes umfasste, beruhigte sie sich.
Michele stand jetzt vor dem für
Nerina faszinierendsten Gemälde, der Geißelung, die er für den Kaufmann Lorenzo
de Franchis anfertigte.
Drei Figuren füllten das Bild, zwei
Geißler und Christus, der an eine Säule gebunden stand, die über die Bildmitte
lief. Für sie selbst hätte Nerina eine eigene Woche gebraucht, obwohl nichts
anderes herauszuarbeiten war, als die perspektivische Krümmung des Schafts. Für
Michele schien dies Nebensache zu sein. Nur wie zufällig führte er immer
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