Das Vermaechtnis des Caravaggio
gefällt das Bild
nicht? Nun, es ist auch nicht zum Essen, es ist nicht einmal für ein Gastmahl
geeignet, es ist überhaupt nicht dazu geeignet, der Mittelpunkt irgendeiner
Feierlichkeit zu sein. Denn um das Bild zu verstehen, muss man glauben, nicht
fressen und saufen, muss man sich einlassen auf eine Botschaft, die in Eure
durch Mengen und Gewichte verdorbenen Köpfe keinen Einlass mehr findet. Man
sollte davor knien und in Stille und Meditation versunken die Geschichte auf
sich wirken lassen, die es erzählt.“
Vergeblich versuchte Nerina,
Michele zu beruhigen. Er schüttelte sie ab, als wäre sie ein lästiger Parasit.
Um sie her verstummten die Gäste. Nur der Senator, der anfänglich blass
geworden war ob des Ausbruchs, bekam sich in die Gewalt, lief rot an und tat einen
Schritt auf Michele zu, aber bevor er auch nur ein Wort der Entgegnung
hervorbringen konnte, hatte Michele seinen Degen gezückt und ließ ihn durch die
Luft pfeifen.
„Euch gefällt das Bild nicht! Nicht
wahr? Unfertig nennt ihr es, oberflächlich. So ganz anders ist es, als all das
Geschmier, das Euch Eure heimischen Pinselschwinger und Kleckser liefern. Nicht
wahr? Nicht steif, nicht fromm, nicht alt genug für Euch, die ihr Veränderungen
nicht einmal erkennen könntet, wenn sie Euch auf die Füße fielen. Ihr verdient
es nicht, dass ein Caravaggio auch nur ein Dachshaar Farbe für eine Eurer
Kirchen auf die Leinwand setzt. Ahnungslos seid Ihr, der Gier des Geldes
verfallen, was Euren Sinn für die natürliche Anmut der Dinge hat verkümmern lassen.
Ihr erkennt reine Natur nicht einmal dann, wenn sie vor Euch steht, zu sehr
sind Gaumen und Sinne verzärtelt und verbogen. Aber bitte, ihr wünscht es so,
ihr sollt es haben ...!“
Mit mächtigen Hieben bahnte er sich
einen Weg durch die Gästetraube, die sich vor seiner Erweckung des Lazarus
gebildet hatte. Aus Angst vor der Klinge sprangen die Menschen beiseite,
stürzten übereinander und traten sich gegenseitig auf die Beine.
Doch Nerina erkannte, dass es nicht
in Micheles Absicht stand, einen Menschen zu verletzten. Sein Zorn galt der
Dummheit der Gäste, die an dieser Stelle ebenso auf einen Tanz oder ein
Musikstück reagiert hätten, gesättigt vom Gesehenen oder Gehörten.
Im Nu stand Michele vor dem Bild.
Ein Schrei lief durch die Menge, als er ausholte und mit drei vier schnellen
Hieben die Leinwand in Stücke schnitt.
„Wem die Ehrfurcht fehlt, der soll
die Demut kennenlernen“, rief er und ließ die Klinge ein weiteres Mal durch die
Leinwand fahren. Erst dann sank er auf die Knie, die Hände auf seinen Degen
gestützt, den Kopf gesenkt, das Haar schweißnass.
Nerina, die sich den Schmuck vom
Hals gerissen und de’ Lazzari vor die Füße geworfen hatte, sprang ihm zu Hilfe.
Sie griff ihm unter die Arme und hob ihn auf. Langsam, als müsse er die Last
einer Erdkugel tragen, kam Michele auf die Beine.
„Wir gehen“, flüsterte Nerina.
„Ich konnte ... konnte ... doch
nicht zulassen, dass sie ... sie sich über mein ... mein Bild so die Mäuler
zerreißen!“
Michele stotterte, dann schüttelte
ihn ein Weinkrampf. Mit einem Tuch, das Nerina im Ärmel ihres Kleides verborgen
hatte, wischte sie ihm übers Gesicht.
„Recht hast du gehandelt, Michele.
Sie verdienen es nicht!“
„Sie werden mich jagen.“
Stumm standen die Gäste vor dem
zerstörten Werk und dem Künstler, der vor kurzer Zeit noch jubelnd gefeiert
worden war. Erschrocken über das Geschehen, erstarrt über die wilde Emotion,
die sie miterlebt hatten, zitternd und verstört. Der Lärm war in eisige Stille
abgestürzt.
„Ich male ein anders Bild, ein
besseres“, schrie Michele plötzlich, und seine Stimme hallte im Raum, als sei
er ohne Menschen. „Es wird Euch auf die Knie zwingen, es wird Euch Demut
lehren!“
23.
„Mir entgleitet die Zeit. Als
schwimme sie davon, jeden Tag eiliger. Ich vermag sie nicht mehr zu fassen.“
Nerina saß in einem Karren, der von
einem Ochsen gezogen wurde, neben Michele. Sie waren in Richtung Palermo
unterwegs. Kaum vier Monate hatte der Aufenthalt in Messina gedauert, vier
Monate, in denen Michele gemalt und gemalt hatte: die zweite Ausfertigung der
Auferstehung des Lazarus sowie eine Anbetung der Hirten für den Hochaltar der
Klosterkirche Santa Maria La Concezione der Kapuziner. Dafür hatten sie
ebenfalls eintausend Scudi erhalten. Hier stammten der Hintergrund und der Esel
aus ihrem Pinsel. Ein Gemälde, dessen Düsternis sie selbst erschreckt
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