Das Vermaechtnis des Caravaggio
Nacht
mehrmals geweckt wurde, weil er rammelte wie ein läufiger Bock?
„Was starrst du?“, fuhr sie ihn an.
„Reiß den Brief auf und dann mach dich fort nach Rom, Michele. Ich habe deine
Heuchelei satt!“
Damit drehte sie sich um verschwand
hinter einem Paravent, um sich dort anzukleiden.
Noch immer starr, den Brief an die
Brust gedrückt, folgten ihr nur seine Augen. Durch das feine Webmuster des
Sichtschutzes hindurch sah sie, dass er abwechselnd bleich und rot wurde, als
müsse er gegen hohes Fieber ankämpfen.
„Nichts verstehst du, Weib, nichts!
Glaubst du, ich habe dich an mich genommen, weil ich eine Gehilfin brauchte
oder einsam war? Nein. Ich habe dich an Vaters statt angenommen, wie du ...“
Michele stockte. Ganz offensichtlich würgte ihn das, was er sagen wollte.
Nerina kam die Art, wie er die letzten Sätze aussprach, wie er redete,
merkwürdig vor. Seine Schüler fuhr er an, unerbittlich und mit einer
übertriebenen Strenge, die sie als unbarmherzig empfand. Gegen sich selbst war
er ohne Gnade und beutete sich aus, solange es ihm möglich war, solange sein
Körper ihm gehorchte. Ihr gegenüber klang alles anders. Sanfter, als rührten
die Sätze an ein Gefühl, das er seit Jahren unterdrückte und das ihn jetzt
überschwemmte, gegen das er machtlos war und nichts ausrichten konnte.
„... und trotzdem bin ich dir nicht
verpflichtet. Mein Vater hat mich an dich verkauft, das weißt du.“
„Er war nicht dein Vater!“
„Mein Ziehvater eben. Meine
wirkliche Familie habe ich nie kennengelernt.“
„Aber ich!“
Micheles Stimme krächzte, als er
den Satz sagte. Nerina war eben dabei, ihr Hemd überzuziehen, als sie den Satz vernahm,
rau und hart und doch so sanft, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ohne
darauf zu achten, dass sie erst halb bekleidet war, trat sie hinter dem
Paravent vor. Selbst die lindgrünen Papiertapeten an den Wänden schienen ihr
plötzlich schal und matt. Sie sah, dass er erschrocken die freie Hand vor den
Mund hielt, als sei ihm dieser Satz unabsichtlich herausgerutscht und er
bedauere es.
„Du kennst meine Mutter? Meinen
Vater?“
Wild begannen Micheles Gesichtszüge
zu zucken. Er schnitt Grimassen, wand sich, räusperte sich und trat von einem
Bein aufs andere.
„Beide! Ja.“
Enrico schien erst jetzt seinen
lächerlichen Aufzug zu bemerken. Rasch trat er ans Bettende und holte sich
ebenfalls das dort abgelegte Hemd, zog es sich über und ermunterte Nerina mit
einem Kopfnicken, weiter zu fragen. Aber Nerina getraute sich nicht. Wollte sie
es wirklich wissen? Wollte sie wirklich die Wahrheit über ihre Herkunft
erfahren, in der Vergangenheit rühren? Wurden damit nicht Erinnerungen
aufgewirbelt, die besser am Grund der Seele verborgen liegen sollten? Wusste
sie nicht vielleicht schon etwas darüber, ohne dass es ihr bewusst geworden
war? Sie empfand Furcht vor der Frage, Furcht und einen gewissen Widerstand.
Aber Enrico nahm ihr die Entscheidung ab.
„Wollt Ihr uns auf die Folter
spannen? Hättet Ihr Euren Mund gehalten, dann schwebte Nerina jetzt nicht
zwischen Hoffen und Bangen. Sagt es Ihr, und dann verschwindet! Brief hin oder
her. – Hat es etwas mit dem Amulett zu tun?“
Micheles Augen wanderten zur Decke,
deren hölzerne Bretterlage Pflanzenmalereien zeigte, Rosen und Rittersporn,
Weinranken und Getreideähren, dazwischen einen Tanz, einen Totentanz, in dem
der Schnitter sich die Besten und Jüngsten aus einer Gemeinschaft herausgriff
und mit ihnen den letzten Reigen schritt. Die Lebensähre der nackten Jungfrau,
die sich ihrer Schönheit wohl bewusst war, wurde ebenso geschnitten wie die des
Gelehrten, mitten im Studium begriffen, oder die des Kaufmanns, der gerade
seine Einkünfte zählte und die Rechnung seiner irdischen Güter machte.
Davor, dachte Nerina, davor fürchte
ich mich. Ohne das Wissen um meine Herkunft ging es mir gut. Was wird sein,
wenn ich es erfahre? Was weiß Enrico davon? Sie griff nach ihrem Amulett und umschloss
es mit der Hand.
Jetzt konnte es niemand mehr aufhalten.
Michele setzte an und mit geschlossenen Augen, den Kopf zur Decke
emporgerichtet, den Brief umklammert, als biete er die Lösung seines Problems,
stieß er zwischen den Zähnen einen Satz hervor, der Nerina die Sinne nahm und
zu Boden warf.
„Du bist die Tochter meiner
Schwester!“
Nur undeutlich wurde ihr bewusst, dass
sie am Boden lag, gefällt durch einen einzigen Satz. Dass Enrico auf sie
zugesprungen kam, sich über sie beugte, dass sie
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