Das Vermaechtnis des Caravaggio
einem weiten Blick über die
Hausdächer hin, hinaus auf den Hafen und über die Uferbefestigung hinweg auf
den Golf von Neapel, einem kleinen Zimmer für sich selbst und einer Nische, in
der gekocht werden konnte, sowie zwei schmale, kaum fußbreite Balkone. Michele
schlief im Atelier auf einer hölzernen Pritsche, über die er einen einfachen
Teppich geworfen hatte.
Von dort oben konnte sie auch in
die schmale Gassenschlucht hinuntersehen. Dort brodelte es tagsüber, als würde
sich vom nahen Vesuv her ein Lavastrom aus Leibern hindurch wälzen. Der Lärm
des Lebens drang bis herauf. Hier in Neapel schien alles überdimensioniert: die
Gesten, die Stimmen, die Stadt selbst. Wo sich in Rom die Menschen verhalten
gaben, wo sie sich mit gedämpfter Stimme unterhielten und Zurückhaltung in den
Bewegungen übten, schrien sich die Menschen hier an, fuchtelten mit den Armen,
als wollten sie sich schlagen, und sie lachten derart unmäßig, als könnten sie
damit böse Geister vertreiben. Rom bildete zweifellos den Mittelpunkt des
Katholizismus im Geiste der Ewigkeit, in Neapel aber wucherte das diesseitige
Leben in all seinen Extremen. Neapel, das war die ungekrönte Hauptstadt des
Südens, das kräftig schlagende Herz Italiens.
Im Nebenraum herrschte plötzlich
eine lastende Stille, die sich wie eine langsame, kräftige Welle durch den Raum
schob. Als wäre Michele verschwunden, abgeholt worden.
Mit einem Schwall, der sie
zusammenzucken ließ, überkam sie plötzlich wieder die Erinnerung an die letzten
Monate. Die Verstecke auf dem Landgut ihres Gönners Don Marzio Colonna in
Latium, zu dem sie Michele mehr tot als lebendig gekarrt hatte. Die Flucht vor
den Häschern des Papstes nach Paliano, bei der sie nur durch Zufall gerade eben
so durch die Maschen der ausgelegten Netze päpstlicher Schergen geschlüpft
waren. Dann der kräftezehrende Fußmarsch nach Zagarolo in der Nähe Roms, das
mit seinen steilen Mauerwänden uneinnehmbar schien und doch keinen Schutz bot
vor den Verfolgern, und Michele beinahe das Leben gekostet hätte. Schließlich
Palestrina, bis Michele eingesehen hatte, dass ihm nur unter der Obhut seiner
Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien, Ruhe zum Arbeiten
vergönnt war, und sie sich nach Neapel gewandt hatten.
Wie ein geprügelter Hund hatte sich
Michele in der Stadt verkrochen – und heute hatte er offenbar wieder die Pinsel
in die Hand genommen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft.
Natürlich, auch auf der Flucht
hatte er malen müssen, im Fieberwahn und mit entzündeten Augen, schon damit sie
ein Auskommen hatten. Er hatte für den Fürsten Marzio Colonna eine „Magdalena
in Verzückung“ fertiggestellt und ihr, Nerina selbst, damit ein Denkmal
gesetzt, weil sie dafür hatte Porträt sitzen dürfen – in Ermangelung einer
besseren Vorlage –, aber auch ein „Christus in Emmaus“ war ihm aus dem Pinsel
geflossen, wie er das Brot segnete und die Brüder ihn dadurch plötzlich
erkannten. Michele thematisierte darin seine eigene Flucht, seinen Weg weg von
Rom, vom Ort seiner Leiden – und konsequent hatte er Christus einen Schimmer
seines eigenen Gesichts geliehen. Der Wanderer zwischen den Welten als Porträt
des Flüchtenden, der zwischen den Mühlsteinen seiner Verfolger zerrieben wurde.
Plötzlich begann Nero zu winseln.
Jetzt erst bemerkte sie, dass er sich am Fußende ihres Bettes niedergelegt
hatte. Er richtete sich auf und spitzte die Ohren. Hatten ihre eigenen
Bewegungen ihn geweckt? Angestrengt lauschte sie hinaus zu Michele. Knarrten
nicht die Bohlen? Lief er nicht leise hin und her und murmelte vor sich hin?
Oder täuschten sie ihre Sinne?
Seine innere Unruhe hatte sich auf
der Flucht gelegt. Seine Verletzungen, die Wochen zwischen Leben und Tod,
hatten nach ihm gegriffen. Michele vertrank nicht mehr ganze Nächte in den
Osterias und Weinstuben. Die Angst, aufgegriffen zu werden, hatte ihm dieses
Vergnügen zusätzlich verleidet. Weniger Wein machten ihn weicher. Er schien im
Einklang mit sich selber zu sein. Nur eine Nervosität in den Fingern hatte er
beibehalten. Unablässig knetete er mit den Fingerspitzen seine Handinnenflächen.
Etwas beschäftigte ihn, etwas, das tief in seinem Innersten schlummerte und
dabei war, aus ihm herauszubrechen. Die wenigen Bilder, die er in aller
Schnelligkeit auf die Leinwand geworfen hatte, befriedigten ihn nicht.
Auftragsarbeiten, hatte er sie geschimpft, Stückwerke und Gefälligkeiten. Dennoch
waren ihm Bilder von
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