Das Vermaechtnis des Caravaggio
aushorchten. Wie die Figuren setzen? Wie die Szenen in Bilder
gießen? Wie die kräftige, derbe Volkssprache in eine ebenso atemlose Botschaft
der Bilder übertragen? Jedes Mal bedeutete es für sie ein Wunder, wenn
letztlich das auf den Leinwänden stand, was das Volk begaffen wollte.
Auf der Gasse vor dem Haus schlug
Nero an, laut und deutlich. Nerina stürzte zum Fenster und sah hinab, konnte
aber auf der dunklen Straße unten nichts erkennen. Nur Neros Kläffen stieg zu
ihr herauf. Es hörte sich an, als riefe er nach ihr. Fand er Michele nicht oder
hatte er eine andere Witterung aufgenommen? Sofort standen ihr die Bilder ihrer
überstürzten Flucht aus Rom wieder vor Augen.
Eiligst hatte sie gepackt und einen
Karren bestellt, eiligst die Freunde verständigt, die Michele geblieben waren. Ebenso
eilig hatten sie beide die Stadt verlassen, noch bevor die Nachricht von
Micheles Verfehlung bis zu den Torwärtern vorgedrungen war. Er, bewusstlos und
im Fieber seiner Wunden, sie gewürgt von der Angst, nicht schnell genug gewesen
zu sein. Sie hatte gewusst, dass er ihr unter den Bedingungen des Transports
auch hätte sterben können, aber in ihrem Karren bestand für Michele noch eine
geringe Überlebenschance. In den Kerkerlöchern des Tor di Nona wäre er in
seinem Zustand sicher umgekommen.
Sie erinnerte sich noch an eine
Begegnung vor der Haustür: Dort hatte Prudenzia gestanden, die Wahrsagerin vom
Fischmarkt, und sie mit ihrem toten Auge angeblickt, stumm nur, die Spindel in
der Hand wie eine der Nornen, die am Lebensfaden spann. Ihr war der Schweiß
ausgebrochen, beim Anblick der Alten, ihr war der Atmen gestockt, und doch
hatte die Alte selbst mitgeholfen, Michele auf den Wagen zu wuchten und ihn unter
einigen Rollen Bilderleinwand zu verbergen. Ohne sich zu bedanken, hatte sie
Prudenzia den Rücken gekehrt und nicht mehr beachtet, und ihr war gewesen, als
würde sich mit jedem Fußbreit, den sie sich von der Alten entfernte, langsam
ein Stein von ihrer Seele wälzen, abfallen und in Rom zurückbleiben.
Nero beruhigte sich auf der Gasse
unten. Nerina trat vom Fenster zurück und überlegte, ob sie sich wieder ins
Bett legen, oder ob sie sich ankleiden und Michele folgen sollte.
Langsam ging sie in ihr Zimmer, schlang
die Arme um die Brust, setzte sich aufs Bett und zog die Beine an.
Warum begleitete sie Michele? Warum
band sie sich an diesen Mann, dessen einzige Passion die Malerei war, Wein und
Huren ausgenommen, und der sich an nichts und niemanden band, weil ihm die
Freiheit für seine Malerei wichtiger schien? Warum schützte sie ihn, obwohl er
im Verdacht stand, einen Menschen getötet zu haben? Glaubte sie, eine Schuld
abtragen zu müssen, weil er sich um sie gekümmert und ihr die Möglichkeit
gegeben hatte, die Malerei zu ergreifen? Sie seufzte. Wollte sie sich ihre
Gefühle für Michele nicht eingestehen, oder konnte sie es nicht? Und doch wusste
sie, dass es andere Gefühle waren, tiefere, eine Liebe, die über das
körperliche Begehren hinausging.
Langsam rollte sie ihre
Leinenstrümpfe die Beine hinauf, zog sich ihr Kleid über und schlüpfte in die
Holzschuhe. Sie wollte schon zur Türe gehen, um sich auf die Suche zu machen
und ihn betrunken und zerknirscht aus einer dunklen Spelunke zu zerren und
zurück nach Hause zu schleppen. Aber etwas hielt sie zurück. Nein, diesmal
würde sie ihm nicht nachgeben, diesmal würde sie ihre Ungewissheit bezwingen,
die in ihr bohrte, und ihn dort lassen, wohin er geflüchtet war. Vielleicht
floh er ja vor ihr. Ein heftiges Ziehen im Bauch begleitete diesen Gedanken.
Angekleidet legte sie sich aufs Bett, starrte mit offenen Augen zur Decke und
lauschte durch das Fenster hinunter auf die Gasse.
2.
„Ihr habt Caravaggio gekannt?“
Julias Augen schienen zu leuchten,
und Enrico wusste nicht recht, ob ihre Neugierde echt war, oder ob sie nur
wieder mit ihm spielte. Überhaupt tat er sich schwer mit Frauen. Als
Klosterzögling lernte man Latein und Griechisch, er zusätzlich die Kunst der
Alten Meister, die den Körper noch sorgsam in Gewänder hüllten, aber den Umgang
mit dem anderen Geschlecht – niemals. So fühlte er sich eher tollpatschig und
unsicher.
„Ja, ich habe sogar gesehen, wie er
sein letztes Bild gemalt hat. Den ‘Tod Mariäs’. Ich stand schon vor dem Bild in
seinem Atelier, bevor es öffentlich gezeigt wurde!“
Enrico fühlte sich erleichtert.
Endlich hatte er ein Gesprächsthema und ganz offensichtlich wieder Julias
Vertrauen
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