Das Vermaechtnis des Caravaggio
Kopf und betrat
den Raum. Seine Schritte hallten. Das Atelier gähnte ihm leer entgegen. Keine
Leinwand, kein Raumteiler, keine Staffelei, nur der Geruch nach Leinöl, Eiweiß
und Terpentinöl hing noch wie ein Nebelschleier im Raum. Hatte Pater Leonardus
ihn getäuscht? Caravaggio hatte das Weite gesucht. So sah kein Raum aus, der
von den Schergen der Regierung durchsucht, aus dem ein Delinquent in den Tor di
Nona abgeführt worden war. Hier zeigte sich eine ordnende Hand, hier war
systematisch ausgeräumt worden, als wäre gezielt ein Umzug oder eine Flucht
geplant worden
Wie ein Kartenhaus fiel sein
triumphales Gefühl zusammen und sackte durch bis zur Erde.
Wo befand sich der Maler? Wer hatte
ihm geholfen? Nerina? Unmöglich. Die Frau konnte doch in so kurzer Zeit nicht
eine Flucht planen und durchführen. Zudem besaß Caravaggio kein Geld mehr. Beim
Ballspiel hatte er die letzten Scudi gesetzt, das wusste er. Ohne Geld kam er
aber nicht weit. Wie und wohin also war er geflohen?
Scipione Borghese fühlte, wie sich
seine Überheblichkeit in Panik verwandelte. Wenn er seinem Oheim mitteilen musste,
dass er keinerlei Ahnung davon hatte, wohin sich Caravaggio abgesetzt hatte,
wenn er selbst auf weitere Bilder aus der Hand dieses Malers verzichten musste,
dann schwand sein Einfluss.
Mit langen Schritten durchquerte er
den Raum, um nach möglichen Hinweisen zu suchen, die Caravaggio hinterlassen
hatte. Nach dem, was er gehört hatte, musste der Maler schwer verletzt worden
sein. Umso mehr bewunderte er seine Zähigkeit und Energie, trotzdem die Flucht
zu wagen. Auf dem Boden inmitten des Raumes entdeckte er schwarze Blutflecken.
Mit seiner Sandale stieß er dagegen und pfiff durch die Zähne. Die Menge, die
hier verloren worden war, deutete auf eine erhebliche Verletzung. So sehr er
sich auch bemühte, das ehemalige Atelier gab das Geheimnis des Ziels von
Caravaggios Flucht nicht preis.
Scipione Borghese trat an eine der
Fensteröffnungen und blickte hinaus auf die Straße. Grell stach die Sonne vom
Himmel und füllte die Gasse mit ihrem weißen Licht. Wie Milch wirkten die
hellen Fassaden und der sandige Boden. Die Fuhrwerke und Lastenträger, Bauern
und Marktfrauen, die an diesem Morgen die Gasse durchquerten, wirbelten Staub
auf, der sich gegen die Hitze und den Glast der Sonne stemmte und wie ein
Schleier über die Dinge legte. Diebe schlichen sich vorsichtig wie Katzen durch
das Gewühl. Es wimmelte zu sehr von Menschen, als dass darin eine Pferdekutsche
oder Sänfte mit einem Kranken und einer Frau aufgefallen wäre. Scipione
Borghese biss sich auf die Lippen und verwünschte seine Nachlässigkeit, mit der
er den Lauf der Dinge abgewartet hatte. Aber er würde Caravaggio finden, er musste
ihn finden!
II
Ich habe einen Eifersüchtigen aus unserem
Berufsstand
sagen hören, die Geburt dieses Mannes sei eine
Prophetie
des Unterganges und des Endes der Malerei,
geradeso
wie am Ende dieser sichtbaren Welt der
Antichrist
mit falschen und betäubenden Wundern und
wunderbaren Unternehmungen eine große Anzahl
an Menschen mit sich ins Verderben reißen wird
...“
Vicente
Carducho, 1633
1.
Nerina schreckte aus dem Schlaf
hoch. Sofort fühlte sie sich hellwach. Etwas hatte sie geweckt.
Von nebenan drang das flackernde
Licht großer Kerzen herüber und zeichnete schräge Schatten an die Wände ihres
Zimmers. Pinsel klapperten. Nerina vernahm schweres Atmen. Ängstlich lauschte sie
hinüber ins andere Zimmer, aber die Geräusche von dort klangen vertraut: ein
hektisches Kratzen der Stuhlbeine auf den Bodendielen, das Schaben der
Pinselstiele auf grundierter Leinwand, ein Wischen beim Nachbessern der
Grundierung, wenn die Vorzeichnung verändert wurde. In ihren Ohren klangen die
Geräusche von Micheles eigener Technik wie Musik. Er malte wieder!
Seit zwei Wochen lebten sie jetzt
schon in Neapel. Seit einer Woche hatten sie wieder ein Atelier – und Michele
einen Auftrag. Marzio Colonna, Graf der Mark von Caravaggio, Freund und Gönner
Micheles, hatte sie zuerst in seinem Stadtpalast aufgenommen und ihnen dann
Geld geliehen. Es war ein Vorschuss, um im Hafenviertel eine Wohnung beziehen
zu können.
Vier Stockwerke hoch über den
Gassen von Neapel residierten sie jetzt, und Nerina hatte sofort gewusst, dass
nichts und niemand sie aus dieser Wohnung wieder vertreiben würde! Sofort hatte
sie sich heimisch gefühlt, als sie vor nunmehr sieben Tagen das neue Atelier
betreten hatte: luftige Räume mit viel Licht und
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