Das Vermaechtnis des Caravaggio
wir gefällige
Menschen auf den Bildern? Wofür glatte Gesichter und kräftige Körper? Findet
ihr sie auf der Straße, in den Palästen? Sie existieren nur in den Köpfen der
Prediger und Weltverbesserer. Nehmt Huren und Straßenräuber, wenn ihr Heilige
malt. Sucht nach Charakterzügen im Gesicht, nach den Furchen der Zeit, nach dem
gequälten Ausdruck des Hungernden, nach dem bittenden Blick des Bettlers, nach
dem flehenden der geschändeten Hure – und danach malt eure Apostel, eure
Heiligen, eure Marien. Sie tragen Runzeln im Gesicht und Schmutz unter den
Fingernägeln. Ihre Fußsohlen sind voller Dreck und rissig vom Staub der Straße
und die Beine voller blauer Flecken. Erst dann greift ihr nach dem Göttlichen.
Denn wahrlich, so spricht der Herr, ich habe ihn geschaffen nach meinem
Ebenbilde ...“
An solchen Tagen ereiferte sich
Michele, sonnte sich im Interesse der um ihn lagernden Jünglinge. Mehr oder
weniger aufmerksam folgten die Zuhörer seinen Ausführungen, während ihr langsam
die Hände schweißnass anliefen. Was wollte der Fremde hier?
„Aber schuf der Herr nicht
vollkommene Geschöpfe, und sind nicht die himmlischen Körper oberhalb der
Mondzone keiner Wandlung mehr unterworfen und bleiben deshalb ewig schön und
wohl geordnet?“, warf einer der Jungen ein, der mit seinem Skizzenblock in
Micheles Rücken nahe der Tür saß. „Entstellen wir nicht die reiche Wirkung der
Natur, indem wir Makel und Hässlichkeit in unsere Bilder aufnehmen?“
„Meine himmlische Schöne trägt ein
Muttermal auf ihrem Allerwertesten!“, grölte ein anderer dazwischen und nahm
einen kräftigen Schluck aus dem Weinkrug. „Und ich finde sie keineswegs hässlich!“
Nerina musterte den Kerl, dessen
geschmackloser Einwurf sich mit seinem sonstigen Äußeren paarte. Mit
abgeschabten Stoßkanten und aufgeplatzten Nähten hinterließ er in Nerinas Augen
den Eindruck eines Hundes, den man aus einem besseren Zuhause fortgejagt hatte.
Wie beiläufig fiel ihr Blick wieder auf den Fremden daneben, der jetzt in sich
zusammengekauert den Ausführungen Micheles lauschte, aber nicht zustimmend,
wenn die Haltung sie nicht trog, sondern mit Runzeln des Widerspruchs auf der
Stirn.
Nerina überlegte, wie sie Michele
vor diesem Geschöpf warnen konnte, ohne sich zu verraten.
„Euer Blick soll nicht durch
Idealisierung verstellt sein. Wenn Gott diese Welt so schuf, wie sie ist, dann
schuf er die Schönheit ebenso wie den Makel. Denn ohne den Makel ist die
Schönheit nicht denkbar. Woran sollen wir unser Auge schulen? Woran erkennen,
was schön ist, wenn wir das Unproportionierte, das Missgestaltete nicht kennen?
Nur indem Ihr den Früchten einer Obstschale den Wurm beigebt, vermögen wir die
tatsächliche Schönheit der Früchte zu bewundern.“
Nerina stand an der Tür zu ihrem
Zimmer und tat so, als lauschte sie ebenfalls Micheles Worten. Doch die erhoffte
Gelegenheit bot sich ihr nicht. Seit seiner schweren Verwundung beschäftigte er
sich gedanklich mit der Theorie des Malens, mit der Art und Weise, wie seiner
Meinung nach ein Bild aufgebaut sein musste – und er wollte seine Theorien
weitergeben, eine Art Schule gründen.
„Seht her!“, betonte Michele und
schlug von einem Bild, das auf einer Staffelei an der Wand stand die Abdeckung
zurück. Darunter kam eine Skizze zum Vorschein, die Nerina zur Genüge kannte,
„Die sieben Werke der Barmherzigkeit“. Die letzten Tage hatte sie mit Michele
über deren Ausführung diskutiert und gestritten.
Während sie selbst gerade einmal
ein einziges Bild bewältigte, schien es für Michele ein Leichtes zu sein, drei,
vier Bilder auf einmal zu bearbeiten. Manchmal hatte sie das Gefühl, er denke während
der Arbeit an dem einen über die Konstruktion des andren nach, so abwesend, so
konzentriert malte er, so schnell wechselte er von einem zum anderen Bild. Trotzdem
wirkte sein Ansatz immer sicher und durchdacht.
„Stellt Euch vor, Ihr bekommt von
der neu gegründeten Pio Monte de la Misericordia, der Compagnia für die
Armenfürsorge in Neapel, den Auftrag, die „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ in
einem einzigen Bild zu fassen.“
Nur mit einem halben Ohr hörte
Nerina zu. Sie hatte Michele vorgeworfen, dass er wieder einen Bildauftrag
angenommen hatte, der nicht zu erfüllen war, der von vorneherein scheitern musste.
Noch niemand hatte zuvor alle Werke der Barmherzigkeit in einem einzigen Bild
vereinigt, man malte die einzelnen Taten gesondert voneinander auf
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