Das Vermaechtnis des Caravaggio
Kompositionswillen.“
Als hätte ihn ein Skorpion gestochen,
fuhr Michele herum. Nerina sah, dass sich seine Augen zu Schlitzen verengten.
Plötzlich war es still im Raum, niemand wagte es ansonsten, Michele zu
widersprechen. Doch dann begann Michele zu lachen, ganz unmäßig zu lachen, als
hätte der Mann einen guten Witz gemacht.
„Salvatore, Salvatore. Deinen
unbestechlichen Augen entgeht nichts. Aber während ich keine Madonna brauche,
weil die Werke der Barmherzigkeit schließlich nicht im Himmel begangen werden,
sondern auf Erden, muss ich die Menschen zu einem Knäuel zusammenpferchen, in
dem die einzelnen Szenen ihrer Ausdruckskraft beraubt werden. Ich behelfe mir
dabei mit einer Technik unserer Altvorderen. Beziehungslosigkeit der Gruppen in
einem Gemälde ist nicht neu und wird die Menschen nicht abschrecken. Mir sind
kleine Missstimmigkeiten lieber, als die Zerschlagung der großen Idee.“
Beifälliges Gemurmel erhob sich
unter den jungen Malern ob der Offenheit gegenüber der geäußerten Kritik.
Eifrig notierten sie den Einfall, und Nerina befürchtete schon, Michele müsse
sich beeilen, seine „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ fertigzustellen, da sonst
ein anderer seine Idee malerisch umsetzen werde.
„Untersteht Euch, die Madonna aus
dem Bild zu verbannen!“
Messerscharf in ihrer Betonung
drang die Stimme in die Unterhaltung, die Michele durch sein Bekenntnis
ausgelöst hatte. Nerina lenkte ihren Blick zur Tür, dorthin, wo der
Neuankömmling sich niedergesetzt hatte. Als sich dieser umständlich erhob, sah
Nerina an der Tonsur auf dem Hinterkopf, dass es sich um einen Mönch handeln musste,
obwohl er keinen Habit trug, sondern die Kleidung eines gewöhnlichen Mannes von
der Straße. Sein tiefschwarzes Haar glänzte regelrecht in den schräg durch die
Jalousieöffnung einfallenden Sonnenstrahlen.
Michele musste husten, und Nerina
fiel auf, dass sich eine seiner Hände zu einer Faust verkrampfte. Ansonsten
stand er starr da, bewegte sich keinen Zoll. Einzig den Kopf beugte er
lauschend über eine Schulter, als wolle er dem Fremden nur sein Ohr leihen.
„Das Bild ist für eine
Laienbruderschaft gedacht. Diese unterstellt sich gerne der Mutter Kirche. Wer
könnte die Ecclesia besser verkörpern als Maria? Fügt sie also ein, Messer
Caravaggio!“
Dass Michele sich beherrschen musste,
vermutete Nerina nur, denn einzig die Faust und ein leichtes Zucken um den
linken Mundwinkel deuteten innere Spannung an. Ihr aber trocknete die Kehle aus.
Auch wenn der Mann, der hier vor ihr stand, mit Bart etwas anders aussah, als
in ihrer Erinnerung, hatte seine Stimme bei ihr alle Zweifel ausgeräumt.
„Wer seid Ihr, dass Ihr mir
versucht, Befehle zu geben?“
Rau klang Micheles Stimme und
bitter. Nerina erwartete einen Tobsuchtsanfall, ein Duell oder zumindest eine
Messerstecherei, aber Michele hielt sich zurück. Und wenn sie sich nicht ganz
täuschte, konnte sie in seiner Stimme ein leichtes Vibrieren vernehmen. Hatte
er Angst?
„Sagen wir, ich vertrete Eure
Auftraggeber!“
Michele lachte krampfhaft, ohne
deswegen seine Körperhaltung zu ändern. Nervös strich er sich mit der Zunge
über die Lippen.
Nur Nerina wusste, dass niemand
auch nur ein Jota an Micheles Konzeption würde ändern können, berechtigte
Kritik hin oder her. Seinen Spaß hatte Michele daran, die alten Techniken zu
verwenden, und sie dann mit leichten Nuancen spöttisch zu kritisieren. Dennoch
glaubte sie zu fühlen, dass sich hinter seinem Widerspruch mehr verbarg, als
nur sein eigener Wille. Michele kannte den Mann, wusste, um wen es sich bei
diesem Mönch in Straßengewändern handelte, sonst hätte er sich zu ihm
umgedreht.
Noch immer würdigte er den Fremden
keines Blickes. Nur zu Nerina wanderten die Augen, und er befahl ihr mit einem
Wink und dem Heben einer Braue, den Kerl zu beobachten.
4.
Diesmal wollte Nerina den Spieß
umdrehen! Micheles unterschwellig fühlbare Angst beunruhigte sie.
In einem Augenblick, in dem niemand
sie beachtete, verschwand sie in ihr Zimmer, zog ihr Leinenkleid über den Kopf
und schlüpfte eilig in Wams und Beinkleider. Mit geübtem Griff drehte sie ihre
Haare zusammen, steckte eine Nadel in den so entstandenen Knoten und platzierte
ihn auf dem Kopf. Dann stülpte sie sich eine Mütze über. Rasch griff sie mit
Daumen und Zeigefinger den Docht der zunächst stehenden Kerze und verschmierte
sich Ruß auf Kinn und Oberlippe. Dann betrachtete sie sich im Spiegel. Wer sie
nur aus der
Weitere Kostenlose Bücher