Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
entzog. Diesmal ließ er es jedoch zu.
Īsā lief bereits den Weg hinunter, als ihm Ong Pa mit lauter Stimme etwas hinterherrief.
»Und mach es nicht so wie der einsame Greif, der nur ein Ei legt!« Doch Īsā war bereits auf und davon und konnte ihn nicht mehr hören.
Gua Lis letzte Worte hatten Ferruccio de Mola eine tiefe Wunde zugefügt, obwohl er während der Erzählung sogar mit ihr gelacht hatte. Er hielt sich die Hand vor den Leib und war überzeugt davon, dass seine Empfindung von einem langsamen Auslaufen seines Blutes herrührte. Es schmerzte nicht, und allein die Gewissheit, dass das Leben aus ihm zu weichen schien, gab ihm endlich Frieden.
27
Rom, 30. August 1497
Während der Nacht hatte ein heftiges Gewitter die Erde weggespült, Straßen überschwemmt, jahrhundertealte Bäume entwurzelt und die Mauern Roms erzittern lassen. Cesare Borgia war die ganze Nacht wach geblieben. Die Furcht vor den Blitzen verfolgte ihn seit seiner Kindheit – in dem plötzlich aufflackernden grellen Licht meinte er als kleiner Junge, überall furchterregende Gespenster zu sehen. Und als Erwachsener plagte ihn die Angst, dass ein Blitz genau in sein Gesicht einschlagen könnte. Die unfreiwillige Nachtwache hatte ihn zum Nachdenken bewogen: Die Errichtung eines Königreiches nach der Abschaffung des Pontifikats war seit dem Tode seines Bruders Juan in greifbare Nähe gerückt. Dass Cesare ihn mit der Zustimmung seines Vaters aus dem Weg geräumt hatte, machte ihn nun erpressbar. Andererseits hatte er seinem Vater gegenüber auch ein Druckmittel – wenn auch kein so wirksames: Der Alte hatte aufgrund seines fortgeschrittenen Alters seine Macht bereits festigen können – er wartete hingegen immer noch auf seine Einsetzung. Der zweite wichtige Schritt für seine Karriere war die Vernichtung von Lucrezias Kind gewesen. Das hartnäckige Schweigen seiner Schwester hatte in ihm den Verdacht bestätigt, dass das Kind den Lenden seines Vaters entsprang, und Cesare wusste, wie glücklich der Papst darüber gewesen wäre. Doch der Alte hatte sich verrechnet: Es würde niemals einen Borgia-Sohn von einer Borgia-Mutter geben – und schon gar keinen mit Thronansprüchen! Wie auch immer die Wahrheit aussehen mochte – der Infant war kein Hindernis mehr, und sein Vater würde ihn nur schwerlich beschuldigen können, einen Bastard ermordet zu haben, der Frucht eines bestialischen Inzests war.
Vor seinem geistigen Auge erschienen Cesare mehrmals sein Bruder und sein Neffe. Er schloss die Augen. Wenn sich alles so fügte, wie er es geplant hatte, würde er seinen Vater bald zur ewigen Ruhe geleiten und dessen Amt übernehmen. Und herrschen wie der letzte Caesar vor eintausendfünfhundert Jahren. Cesare seufzte genießerisch. Als Nächstes würde er Jofrés Ehe annullieren und diese Hündin Sancha heiraten. Gemeinsam mit ihr würde er dann die Königreiche Rom und Neapel vereinigen. Was Florenz betraf, so hatte sein Vater recht: Über kurz oder lang würde das Volk Savonarolas überdrüssig; es würde sich gegen die gestrengen Gesetze auflehnen und Savonarola davonjagen. Die Borgia-Könige bräuchten dann nur noch ihre Hand auszustrecken und sich gegen die Franzosen zu erheben, um die Herrschaft über Florenz und damit das gesamte Herrschaftsgebiet zu beanspruchen. Möglicherweise würde sein Vater ihm sogar gestatten, Medici den Kiefer herauszureißen, nachdem sie ihm das Maul geöffnet und erfahren hatten, was ihn dazu bewogen hatte, seinen Kopf in den Rachen der Borgia zu stecken. Niemand würde auch nur einen Finger rühren, um Medici zu helfen – er hatte zu viele Schuldner.
Obwohl Cesare immer noch wütend war, dass sein Vater ihn von dem Gespräch mit dem Kardinal ausgeschlossen hatte, fand er schließlich Schlaf; allerdings erst im Morgengrauen, als der Regen noch auf die Dächer prasselte und der Wind durch Fenster und Kamine pfiff.
Die Uhr im neuen Glockenturm schlug einen Hauch früher zur neunten Stunde als die der nahe gelegenen Petersbasilika – genau wie Borgia es gewünscht hatte. Giovanni de’ Medici saß auf einer massiven, mit mythologischen Figuren verzierten Eichenbank, deren Füße den Hufen eines Satyrs nachempfunden waren. Ohne eine Miene zu verziehen, lief Zeremonienmeister Giovanni Burcardo auf und ab. Seit der förmlichen Begrüßung hatte er kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Ab und an notierte er etwas mit seiner Feder aus Rötel, die in einem Stück Schilfrohr steckte. De’ Medici wechselte ab und
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