Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Mission zu Ende zu bringen. Noch zufriedener war er, als er Gua Lis Stimme hörte, die dem Klang der sanften Gling-Bu-Flöte glich, die beim Meditieren hilft und den Fluss der Gedanken anregt.
In der Nacht hatten die Nordwinde alle Wolken vertrieben. Die Luft war rein und klar, und als wolle das Universum zeigen, dass sein Licht dunkel war, wechselte im Laufe des Tages die hellblaue Farbe des Himmels in ein dunkles Indigo. Als sich die ersten Sonnenstrahlen an der Bergspitze des Großen Berges widerspiegelten und in die Kammer von Tenzin Ong Pa fielen, dem Ersten Mönch des Lek-Klosters, hatten sie sich auf den Weg gemacht. Die Mönche lachten und scherzten, als sie die klaren Bergbäche überquerten, und gaben Acht, nicht auf den weißen Rhododendron zu treten, der hier blühte. Sie erzählten sich von ihren Kämpfen mit den Dämonen der Nacht, und jeder machte sich über die Ängste des anderen lustig und war zugleich froh, die eigenen mit den Gefährten teilen zu können. Viele hatten Trommeln und Trompeten dabei. Ab und zu mussten sie auf Nachzügler warten, die angehalten hatten, um ihre negativen Energien auf einen Stein zu übertragen, den sie in den mächtigsten Strudel des Bachs warfen.
Īsā war zum ersten Mal mit den Mönchen unterwegs. Er genoss ihre Freude und lachte über ihre Selbstironie. Er strahlte und fühlte sich voller Leben, und es gab keinen Duft, keinen Anblick, kein Geräusch und keine Empfindung, die ihn nicht innerlich vor Freude vibrieren ließen. Am Ufer des Samtzo hielten sie an: Das Gewässer war gerade mal ein Tümpel, aber es hatte den Ruf, aus den Tränen der Reue eines bösen Teufels entstanden zu sein, der sich bekehrt hatte.
»Alles nur Geschichten«, zwinkerte Ong Pa Īsā zu. »Ohne den Gletscher wäre die Erde auch durch ein noch so verzweifeltes Weinen des Dämons nicht einmal feucht geworden. Doch diese Geschichten sind der spielerische Part des Lebens, ohne die es, anstatt kurz und fröhlich, lange und eintönig wäre.«
»Also, dann bin ich sehr fröhlich.« Īsā legte die Hände aneinander. »Habt Dank, Meister Tenzin Ong Pa. Durch Euch lernte ich viele Dinge verstehen.«
»Dann sind wir also alle fröhlich. Nun denn …«
Er machte eine Armbewegung, und alle setzten sich auf einen Felsen, auch Īsā.
»Nenn mich nur Ong Pa wie die anderen auch. Seit heute bist du Teil unserer Gemeinschaft, und das wollen wir mit dir feiern. Doch zuvor möchte ich dir ein paar Fragen stellen. Erlaubst du?«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Gut. Die Frage, die ich dir gerade stellte, war bereits die erste!«
Ong Pa begann zu lachen, und alle anderen Mönche stimmten ein. Auch Īsā lachte, verstand dann den Witz und lachte erneut.
»Īsā, seit zwei Jahren hast du studiert und meditiert. Was konntest du für dich daraus lernen?«
»Dass man seine aufkeimenden Gedanken beobachten und ihnen freien Lauf lassen muss, um das höhere Bewusstsein zu erlangen.«
»Sehr gut«, lächelte der Mönch. »Und mit welchen Schwierigkeiten hattest du zu kämpfen?«
»In bestimmten Momenten überkam mich Müdigkeit und in anderen Unruhe.«
»Das ist sehr interessant, meint ihr nicht auch, meine Freunde? Das Gleiche geschieht mit uns beim Einschlafen: Manchmal sinken wir in den Schlaf, ohne es zu bemerken, und ein anderes Mal suchen wir ihn ohne einen offensichtlichen Grund vergeblich. Und was sollte man also in diesen Momenten tun?«
»Alles in einen einzigen Gedanken zusammenführen, so wie es der Schäfer tut, wenn er jedes einzelne Tier seiner Herde durch ein Nadelöhr schiebt.«
»Du machst mich sehr stolz, Īsā, ich bin wirklich erfreut. Du hast recht: Die Energie, die durch einen einzigen Gedanken entsteht, würde einem Haar deines jungen Bartes erlauben, Gletscher und Felsen zu durchdringen. Wenn meine Freunde einverstanden sind, dann würde ich sagen, dass der Moment gekommen ist, dass Īsā die zweite von den neun Stufen des Wissens erklimmt.«
Die Mönche sahen einander an und nickten ihrem Ersten Mönch zu. Sie setzten sich mit dem Rücken zum See und wandten ihre Blicke dem Gletscher zu. Einige begannen, mit lederummantelten Holzstöcken auf die Trommeln zu schlagen, andere bliesen in die Trompeten. Dann ließen sie den Klang zusammenströmen und richteten ihn auf einen Felsblock auf dem Gletscher. Īsā spürte eine Vibration, als würde eine unbekannte Kraft seinen Körper durchdringen – unsichtbar und doch real. Plötzlich begann der Felsblock zu schweben. Der stete, tiefe,
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